Metadaten

Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0512
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
486 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

liegt in einer schwachen Persönlichkeit, zufolge dessen das Wirkliche,
das Bestehende nur einen geringen Eindruck auf den Deutschen macht/“
(NL 1873, 29 [68], KSA 7, 659.) Grillparzer selbst orientiert sich an Hegel (vgl.
NK 274, 18-19). Zur Vorstellung der „schwachen Persönlichkeit“, die N. von
Grillparzer übernahm, vgl. auch NK 256, 31 - 257, 2.

6.
Einen ersten Ansatz zu diesem Kapitel, das den Anspruch auf,Objektivität4 in
der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts vor allem
im Hinblick auf den Historiker Ranke kritisch ins Visier nimmt, bildet ein Ent-
wurf, der schon 1871 entstand, als N. noch mit der Geburt der Tragödie beschäf-
tigt war: „Gerade unserer Zeit, mit ihrer sich ,objektiv4, ja voraussetzungslos
gebärdenden Geschichtsschreibung, möchte ich zurufen, daß diese »Objektivi-
tät4 nur erträumt ist, daß vielmehr auch jene Geschichtsschreibung - soweit
sie nicht trockene Urkundensammlung ist - nichts als eine Beispielsamm-
lung für allgemeine philosophische Sätze zu bedeuten hat, von deren
W e r t h es abhängt, ob die Beispielsammlung dauernde oder höchst zeitweilige
Geltung verdient. [...] Nur der ernste und selbstgenugsame, allen eiteln Begeh-
rungen enthobene Denker sieht etwas in der Geschichte, was der Rede werth
ist: nur für die begierdelosen Augen des Philosophen spiegelt die Geschichte
ewige Gesetze wieder, während der mitten im Strome des egoistischen Willens
stehende Mensch, wenn er Gründe hat die Maske der Objektivität vorzuneh-
men, sich bescheiden muß, die Nomenklatur der Ereignisse, und gleichsam
ihre äußerste Rinde mit beleidigender Gründlichkeit zu benagen: wohingegen
er sofort mit jedem erweiterten Urtheile, das er macht, seinen philosophisch
rohen, tieferer Selbstbetrachtung unzugänglichen und deshalb gleichgültigen
Allerweltsverstand bloßstellt“ (NL 1871, 9 [42], KSA 7, 288-289).
Ein ausführlicheres Notat aus der Entstehungszeit der Historienschrift geht
auf das Problem der »Objektivität4 teils auf andere Weise ein als die später von
N. publizierte Version des 6. Kapitels; dieses Nachlass-Notat enthält auch wei-
tergehende, sehr aufschlussreiche Differenzierungen (NL 1873, 29 [96], KSA 7,
673-675):
„.Objectivität des Historikers“ ist ein Unsinn. Man meint, es bedeute, dass ein Ereigniss
in allen seinen Motiven und Folgen so rein angeschaut werde, dass es keine Wirkung
mehr thut, nämlich ein reiner intellectueller Process bleibt: wie die Landschaft für den
Künstler, der sie nur darstellt. .Interesseloses Anschauen“, ein ästhetisches Phänomen,
Abwesenheit aller Willensregungen. Mit .objectiv“ ist also ein Zustand im Historiker ge-
meint, die künstlerische Beschaulichkeit: ein Aberglaube aber ist es, dass das Bild, das
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften