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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0517
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Stellenkommentar UB II HL 6, KSA 1, S. 287-288 491

Diese wahrheitsfernen Motivationen finden auch in die Gelehrtensatire Ein-
gang, die N. in UB IIISE entfaltet: vgl. KSA 1, 394, 24 - 399, 28. Hier wundert
sich N. geradezu darüber, wie „zum Vortheile eines im Grunde äusser- und
übermenschlichen Geschäftes, des reinen und folgelosen, daher auch trieblo-
sen Erkennens, eine Menge kleiner sehr menschlicher Triebe und Triebchen
zusammengegossen wird“ (399, 21-24). Zuvor hat er zwischen verschiedenen,
mehr oder minder fragwürdigen Motiven zur Wahrheitssuche differenziert und
in diesem Zusammenhang eine satirische Typologie des Gelehrten entworfen,
den Neugier, Abenteuerlust, Jagd- und Spieltrieb ebenso stimulieren können
wie Widerspruchstrieb, Lust zu Kampf und Sieg, Bequemlichkeit, Servilität,
übergroßer Respekt vor den Kollegen, Ehrgeiz, Missgunst, Eitelkeit, Vergnügen
an Kuriositäten oder Angst vor der Langeweile (394-399). Zur Thematik der
Langeweile vgl. auch NK 256,18-26. - Später charakterisiert N. in der Morgen-
röthe denjenigen, der sich ohne intrinsische Motivation intellektuell beschäf-
tigt, als einen „Don Juan der Erkenntniss: [...] Ihm fehlt die Liebe zu den Din-
gen, welche er erkennt, aber er hat Geist, Kitzel und Genuss an Jagd und
Intriguen der Erkenntniss - bis an die höchsten und fernsten Sterne der Er-
kenntniss hinauf!“ (KSA 3, 232, 16-21).
In seinen Aufzeichnungen zur Vorbereitung eines Freiburger Seminars zu
N.s UB II HL (abgehalten im Wintersemester 1938/39) charakterisiert Heidegger
den ,„Typus‘ des jetzigen ,Professors4, das Urbild der Charakterlosigkeit“, ganz
im Sinne von N.s Gelehrtensatire durch das folgende Fehlverhalten: „Flucht in
die Geltungsangelegenheit, völlige Wurschtigkeit gegenüber der Wahrheitsfra-
ge, der Tanz um das papierne Kalb der Ergebnisse4 und der Entdeckungsrekor-
de und das fortgesetzte ,Besserwissen4 44 (Heidegger, Bd. 46, 2003, 108). Diese
pejorative Sicht Heideggers, nach der die Mentalität des Professors nicht durch
ein Wahrheitsethos, sondern durch fragwürdige Sekundärmotivationen be-
stimmt ist, korrespondiert mit der von N. sowohl in UB II HL als auch in
UB III SE entfalteten Gelehrtenkritik.
288, 10-11 Nun stelle man sich den historischen Virtuosen der Gegenwart vor
Augen: ist er der gerechteste Mann seiner Zeit?] Hier spielt N. auf den Historiker
Leopold von Ranke (1795-1886) an, der zu den ,Gründervätern4 der modernen
Geschichtswissenschaft gezählt wird: Seine auf dem zeitgenössischen Historis-
mus basierende wissenschaftliche Methodik markiert den Übergang von pri-
mär geschichtsphilosophischen Ansätzen zu einer systematischen Geschichts-
wissenschaft, die auf quellenkritischer Forschung beruht und sich am
Objektivitätsprinzip orientiert (vgl. im Überblickskommentar Kapitel II.4, Ab-
schnitt 6). - Trotz seines Objektivitätsideals charakterisiert Ranke die Historie
allerdings „als Kunst und Wissenschaft zugleich“ (Katrin Meyer 1998, 129);
denn als Wissenschaft sammle und durchdringe sie das historische Faktenma-
 
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