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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0521
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Stellenkommentar UB II HL 6, KSA 1, S. 290 495

290, TJ - 291, 7 Grillparzer wagt zu erklären „was ist denn Geschichte anders
als die Art wie der Geist des Menschen die ihm undurchdringlichen Bege-
benheiten aufnimmt; das, weiss Gott ob Zusammengehörige verbindet; das
Unverständliche durch etwas Verständliches ersetzt; seine Begriffe von Zweck-
mässigkeit nach Aussen einem Ganzen unterschiebt, das wohl nur eine nach
Innen kennt; und wieder Zufall annimmt, wo tausend kleine Ursachen wirkten.
Jeder Mensch hat zugleich seine Separatnothwendigkeit, so dass Millionen Rich-
tungen parallel in krummen und geraden Linien nebeneinander laufen, sich
durchkreuzen, fördern, hemmen, vor- und rückwärts streben und dadurch für ei-
nander den Charakter des Zufalls annehmen und es so, abgerechnet die Einwir-
kungen der Naturereignisse, unmöglich machen, eine durchgreifende, Alle umfas-
sende Nothwendigkeit des Geschehenden nachzuweisen“.] Hier kombiniert N.
Aussagen aus zwei verschiedenen Texten Grillparzers, der die Problematik ei-
ner rationalisierenden und sogar teleologischen Geschichtsdeutung reflektiert:
Grillparzer zeigt, inwiefern der Mensch die chaotisch wirkende Heterogenität
der Fakten durch projektive Überformungen zu bewältigen versucht. Zugleich
macht er deutlich, dass sich hier in doppelter Hinsicht die Gefahr der Spekula-
tion ergibt: erstens wenn das zuvor Unverständliche4 durch rationalisierende
Sinnzuschreibungen überlagert und dabei eine Zweckmäßigkeit des ,Ganzen4
unterstellt wird, zweitens wenn Kontingenz vorschnell vorausgesetzt wird, weil
die Vielfalt kausaler Vernetzungen undurchschaut blieb.
N. zitiert im vorliegenden Kontext (mit leichten Modifikationen) aus Grill-
parzers Texten Zur Dramaturgie und Ueber den Nutzen des Studiums der Ge-
schichte. - In der Schrift Zur Dramaturgie grenzt sich Grillparzer in einem eige-
nen Abschnitt implizit von Hegels Ästhetik ab, wenn er über adäquate Stoffe
für den Tragödiendichter nachdenkt und außer historischen Begebenheiten
auch die poetische Inventio für legitim hält: „Die neuesten Aesthetiker wollen
der Stoffe suchenden tragischen Kunst bloß allein die Geschichte anweisen,
deren Facta, als unmittelbare Ausflüsse des Weltgeistes, allein die nöthige Tie-
fe und Würde hätten. Lächerlich! Die Begebenheiten mögen wohl aller-
dings das Werk des Weltgeistes sein, aber die Geschichte? Was ist denn
die Geschichte anders, als die Art, wie der Geist des Menschen diese ihm
undurchdringlichen Begebenheiten aufnimmt; das, weiß Gott, ob Zusammen-
gehörige, verbindet; das Unverständliche durch etwas Verständliches ersetzt;
seine Begriffe von Zweckmäßigkeit nach Außen einem Ganzen unterschiebt,
das wohl nur eine nach Innen kennt; Absicht findet, wo keine war; Plan, wo an
kein Voraussehen zu denken; und wieder Zufall, wo tausend kleine Ursachen
wirkten. Was anders ist die Geschichte? Was anders, als das Werk des Men-
schen? Da es nun aber nicht die Begebenheiten, sondern ihre Verbindung und
Begründung ist, worauf es dem Dichter ankommt, so laßt ihn in Gottes Namen
 
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