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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0526
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500 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

293, 2-3 um für jenen künstlerischen Zustand zu gelten, in welchem das Subject
schweigt und völlig unbemerkbar wird] Hier greift N. implizit auf zentrale The-
sen in Schopenhauers Ästhetik zurück. Schopenhauer betrachtet das Fehlen
jedes voluntativen Bezugs zum ästhetischen Objekt, also das ,Schweigen4 des
Willens, als conditio sine qua non sowohl von interesseloser Kontemplation
als auch von genialer Produktivität in Kunst und Philosophie. Nach seiner
Überzeugung ist die vorübergehend vom Willensdienst befreite Tätigkeit des
Intellekts die unabdingbare Voraussetzung für die Möglichkeit einer ,reinen4
objektiven Erkenntnis. Schopenhauer schreibt: „Das punctum saliens jedes
schönen Werkes, jedes großen oder tiefen Gedankens, ist eine ganz objektive
Anschauung. Eine solche aber ist durchaus durch das völlige Schweigen des
Willens bedingt, welches den Menschen als reines Subjekt des Erkennens übrig
läßt. Die Anlage zum Vorwalten dieses Zustandes ist eben das Genie44 (WWVII,
Kap. 30, Hü 424). Das „zur rein objektiven Auffassung des Wesens der Dinge
erforderte gänzliche Schweigen des Willens“ kann laut Schopenhauer „am si-
chersten dadurch erreicht“ werden, „daß das angeschaute Objekt selbst gar
nicht im Gebiete der Dinge liegt, welche einer Beziehung zum Willen fähig
sind“ (WWV II, Kap. 30, Hü 423). Im Anschluss an Grundtendenzen von Scho-
penhauers Ästhetik verwendet N. in UB II HL ebenfalls den Begriff „Objectivi-
tät“ (292, 28; 293, 9; 293, 19). Vgl. auch NK 293, 18-19.
293,18-19 der künstlerischen Kraft, die wirklich Objectivität zu nennen ist] Hier
schließt N. an Schopenhauers Genieästhetik an. In der Welt als Wille und Vor-
stellung I erklärt Schopenhauer mit definitorischem Nachdruck: „Nur durch die
oben beschriebene, im Objekt ganz aufgehende, reine Kontemplation werden
Ideen aufgefaßt, und das Wesen des G e n i u s besteht eben in der überwiegen-
den Fähigkeit zu solcher Kontemplation: da nun diese ein gänzliches Verges-
sen der eigenen Person und ihrer Beziehungen verlangt; so ist Genialität
nichts Anderes, als die vollkommenste Objektivität, d. h. objektive Rich-
tung des Geistes, entgegengesetzt der subjektiven, auf die eigene Person, d.i.
den Willen, gehenden“ (WWV I, § 36, Hü 218). Zur Thematik der Genialität bei
Schopenhauer vgl. auch NK 358, 29-33 und NK 386, 21-22 in NK 1/4.
Differenzen zwischen Schopenhauer und N. bestehen hier insofern, als N.
die künstlerische „Kraft“, mithin das produktive Moment der Genialität, stärker
hervorhebt, während Schopenhauer besonderes Gewicht auf das kontemplati-
ve Moment und „die Besonnenheit“ des Genies legt (WWV I, § 37, Hü 229). Al-
lerdings gibt es auch bei Schopenhauer Aussagen zu ästhetischer Aktivität. So
betont er „die große, wiewohl spontane Anspannung, welche zur willensfreien
Auffassung der Ideen erfordert wird“ (WWV I, § 36, Hü 222), und die „Energie“,
die der vom Willensdienst befreite Intellekt benötigt, „um aus eigener Elastici-
tät und zwecklos die Welt rein objektiv aufzufassen“ (WWV II, Kap. 31,
 
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