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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0527
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Stellenkommentar UB II HL 6, KSA 1, S. 293 501

Hü 430). Im Kapitel 31 „Vom Genie“ seiner Welt als Wille und Vorstellung II
führt Schopenhauer „die Schöpfungen des Genies“ auf ein ,,abnorme[s] Ueber-
maaß des Intellekts“ zurück, der „sich vom Willen losmacht und [...] aus eige-
ner Kraft und Elasticität frei thätig ist“ (WWVII, Kap. 31, Hü 444). Vgl. zu die-
sem Themenkomplex Neymeyr 1996a, §§ 2, 4, 5, 13, 14.
293, 34 - 294, 4 Nur aus der höchsten Kraft der Gegenwart dürft
ihr das Vergangene deuten: nur in der stärksten Anspannung eurer edel-
sten Eigenschaften werdet ihr errathen, was in dem Vergangnen wissens- und
bewahrenswürdig und gross ist.] Mit dieser Methode der Analogiebildung deutet
N. die Vergangenheit von der Gegenwart her - und umgekehrt. Ein derartiges
Verfahren wendet er geradezu programmatisch und mit konzeptionell übergrei-
fendem Anspruch schon in der Geburt der Tragödie an: Dort analogisiert er die
griechische Tragödie mit der von ihm behaupteten modernen Wiedergeburt4
in Wagners ,Musikdrama4. Auf diese Weise sucht er die tragische Kunst der
Griechen von der Gegenwart her zu verstehen und interpretiert zugleich diese
von jener aus (vgl. KSA 1, 102, 28-30).
In UB IV WB expliziert N. sein auf Analogiebildung zielendes Verfahren so:
„wir erleben Erscheinungen, welche so befremdend sind, dass sie unerklärbar
in der Luft schweben würden, wenn man sie nicht, über einen mächtigen Zeit-
raum hinweg, an die griechischen Analogien anknüpfen könnte. So giebt es
zwischen Kant und den Eleaten, zwischen Schopenhauer und Empedokles,
zwischen Aeschylus und Richard Wagner solche Nähen und Verwandtschaften,
dass man fast handgreiflich an das sehr relative Wesen aller Zeitbegriffe ge-
mahnt wird: beinahe scheint es, als ob manche Dinge zusammen gehören und
die Zeit nur eine Wolke sei, welche es unseren Augen schwer macht, diese
Zusammengehörigkeit zu sehen. [...] Das Bild unserer gegenwärtigen Welt ist
durchaus kein neues: immer mehr muss es Dem, der die Geschichte kennt, so
zu Muthe werden, als ob er alte vertraute Züge eines Gesichtes wieder erkenne“
(KSA 1, 446, 19 - 447, 5).
Mit dieser Strategie der Analogisierung greift N. auf eine längst gängige,
vieldiskutierte Form der Historiographie zurück. Schiller befürwortet sie mit
gewissen Vorbehalten in seiner Jenaer Antrittsvorlesung Was heißt und zu wel-
chem Ende studiert man Universalgeschichte?, aus der N. in der Historienschrift
zitiert (291, 12-18): „Die Methode, nach der Analogie zu schließen, ist, wie
überall so auch in der Geschichte ein mächtiges Hülfsmittel: aber sie muß
durch einen erheblichen Zweck gerechtfertigt, und mit eben soviel Vorsicht als
Beurteilung in Ausübung gebracht werden“ (Schiller: FA, Bd. 6, 427).
Während N. auf Schiller als Quelle rekurrierte, benutzte dieser August Lud-
wig Schlözers Werk Vorstellung einer Universal-Historie (1772) sowie einige
Schriften Herders und Kants. Schlözer zufolge entdeckt die Historie im mensch-
 
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