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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0538
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512 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

auch am Fluss Jordan (vgl. Markus 1,5; Matthäus 3,6; Lukas 3,3). Er propagierte
die Taufe zur Reinwaschung von Sünden und verkündete das kommende Ge-
richt. Als Vorläufer Christi bereitete Johannes zugleich den Weg für eine neue,
reinere Form der Religion. Auf diese Zusammenhänge spielt N. ironisch an,
wenn er Holtzendorffs Tätigkeit mit dem Wirken des Johannes vergleicht. Dass
N. weder dem „Protestanten-Verein“ noch ,,Holtzendorf[f]“ letztlich „neue kräf-
tige Bau-Instincte“ zutraut, zeigt eindeutig der Beginn dieses Gedankengangs.
Denn hier zielt N.s Aussageintention darauf, die im Sinne theologischer Inte-
ressen kontraproduktiven Wirkungen hervorzuheben, die zu den unbeabsich-
tigten Konsequenzen einer an historisch-kritischen Methoden orientierten
Theologie gehören. Vgl. dazu auch NK 296, 5-8 und NK 297, 26-31. Hintergrün-
de zu einigen wesentlichen Positionen in der Kulturgeschichte der Religions-
kritik (Reimarus, Lessing, Voltaire, Renan, Strauß, Overbeck) erläutern NK 296,
30-34 und NK 183, 14 - 184, 5 (der letztgenannte NK geht auf die Kontroverse
um die von Lessing herausgegebenen sogenannten ,Reimarus-Fragmente‘ ein).
297, 5-9 Einige Zeit hilft vielleicht die in älteren Köpfen noch qualmende Hegeli-
sche Philosophie zur Propagation jener Harmlosigkeit, etwa dadurch, dass man
die „Idee des Christenthums“ von ihren mannichfach unvollkommenen „Erschei-
nungsformen“ unterscheidet] Die Philosophie Hegels galt nach der antiidealisti-
schen Wendung der nachfolgenden Generation vielen als obsolet, und zwar
aufgrund der in ihr dominierenden Ausrichtung auf die „Idee“. Die Polemik
gegen Hegel, die N. von Schopenhauer übernahm, gehört zu den markanten
Aspekten seines Frühwerks. Sie wirkte auch in seinen späteren Werken weiter,
die sich radikal gegen Formen idealistischen Denkens richten.
297,10-24 die „Liebhaberei der Idee“, sich in immer reineren Formen zu offen-
baren, zuletzt nämlich als die [...] kaum sichtbare Form im Hirne des jetzigen
theologus liberalis vulgaris. [...] woran sollen wir denken? wenn wir das Christen-
thum von dem „grössten Theologen des Jahrhunderts“ als die Religion bezeichnet
finden, die es ver stattet, „sich in alle wirklichen und noch einige andere bloss
mögliche Religionen hineinzuempfinden“, und wenn die „wahre Kirche“ die sein
soll, welche „zur fliessenden Masse wird, wo es keine Umrisse giebt, wo jeder
Theil sich bald hier bald dort befindet und alles sich friedlich untereinander
mengt“.] Mit dem liberalen und volksnahen Theologen, den N. hier spöttisch
als den „grössten Theologen des Jahrhunderts“ bezeichnet, meint er Friedrich
Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834), der in der protestantischen Theologie
tatsächlich eine Schlüsselposition innehatte und als Theologe, Philosoph, Pre-
diger und Professor (in Halle und Berlin) großen Einfluss gewann. In seiner
Frühschrift Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern
(1799), die noch vom Universalismus der Frühromantik (vgl. Friedrich Schle-
 
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