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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0545
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Stellenkommentar UB II HL 7, KSA 1, S. 299-300 519

weil sie das Tiefste gedacht, gerade das Lebendigste lieben müssen und als
Weise am Ende sich zum Schönen neigen“ (KSA 1, 349, 19-21). Die Gedichtpar-
tie lautet: „Wer das Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste, / Hohe Jugend ver-
steht, wer in die Welt geblickt / Und es neigen die Weisen / Oft am Ende zu
Schönem sich“ (Hölderlin: Gedichte, 1992, 205). Auch in mehreren nachgelas-
senen Notaten aus der Entstehungszeit der Historienschrift bezieht sich N. auf
Hölderlin. So zitiert er den ersten dieser Verse - hier allerdings mit expliziter
Nennung des Autors - in einem Nachlass-Notat (NL 1873, 29 [202], KSA 7, 711),
in dem er anschließend - ebenfalls mit Angabe des Autors - sogar eine ganze
Strophe aus Hölderlins Hymne Der Rhein wiedergibt (ebd.); bezeichnenderwei-
se gelten diese Verse dem ,Genie4.
Mit dem Hölderlin-Zitat in 300, 3-9 illustriert N. seine eigene These, Philo-
sophiegeschichte beschränke sich auf eine sinnlose Folge von einander ab-
wechselnden Meinungen und Systemen. Damit begibt er sich in Opposition
zu Hegels idealistischer Systemphilosophie und seiner Überzeugung vom Wert
einer ideengeleiteten Philosophiegeschichte. Nach einem Plädoyer für das Stu-
dium der Geschichte erklärt Hegel in seinen Vorlesungen über die Geschichte
der Philosophie: „Nach dieser Idee behaupte ich nun, daß die Aufeinanderfolge
der Systeme der Philosophie in der Geschichte dieselbe ist als die Aufeinander-
folge in der logischen Ableitung der Begriffsbestimmungen der Idee [...] Ich
bemerke nur noch dies, daß aus dem Gesagten erhellt, daß das Studium der
Geschichte der Philosophie Studium der Philosophie selbst ist“. Hegel meint,
„um in der empirischen Gestalt und Erscheinung, in der die Philosophie ge-
schichtlich auftritt, ihren Fortgang als Entwicklung der Idee zu erkennen“,
müsse man „freilich die Erkenntnis der Idee schon mitbringen [...] Sonst, wie
wir dies in so vielen Geschichten der Philosophie sehen, bietet sich dem ideen-
losen Auge freilich nur ein unordentlicher Haufen von Meinungen dar“ (G. W.
F. Hegel: Werke in 20 Bänden, 1986, Bd. 18, 49).
Wenn N. „Gedanken und Systeme“ in ihrer historischen Heterogenität im
Unterschied zu Hegel als vorübergehende Phänomene bezeichnet (300, 7-8),
dann sind zugleich auch Affinitäten zu der Geschichtskritik zu erkennen, die
Schopenhauer vor allem in der Welt als Wille und Vorstellung entwickelt und
hier auch mit einer expliziten Kritik an der Hegelschen Geschichtsphilosophie
verbindet. In der Welt als Wille und Vorstellung II kontrastiert Schopenhauer
Geschichte und Philosophie: „Während die Geschichte uns lehrt, daß zu jeder
Zeit etwas Anderes gewesen, ist die Philosophie bemüht, uns zu der Einsicht
zu verhelfen, daß zu allen Zeiten ganz das Selbe war, ist und seyn wird. In
Wahrheit ist das Wesen des Menschenlebens, wie der Natur überall, in jeder
Gegenwart ganz vorhanden, und bedarf daher, um erschöpfend erkannt zu
werden, nur der Tiefe der Auffassung. Die Geschichte aber hofft die Tiefe durch
 
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