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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0557
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Stellenkommentar UB II HL 8, KSA 1, S. 307-308 531

auf Synthesen zwischen deutscher und griechischer Kultur zielenden „edelsten
Bildungskampfe Goethe’s, Schiller’s und Winckelmann’s“ (KSA 1, 129, 14-15)
die zeitgenössischen Depravationen des Bildungsanspruchs gegenüber, die er
in einem auf ästhetische Harmonisierung fixierten Klassizismus, in der Tätig-
keit philologischer „Sprachmikroskopiker“ (KSA 1,130,13) sowie in Tendenzen
zu historistischer Archivierung der Antike und zu journalistischen Metamor-
phosen der Kultur in unverbindlich-verspielte „Eleganz“ erblickt (vgl. KSA 1,
130.1- 25). Zum Kontrast zwischen genuiner ,Bildung4 und bloßer ,Gebildetheit4
bei N. vgl. die detaillierteren Darlegungen in NK 275, 2-3 sowie in NK 260, 32-
34 und NK 334, 9-14.
308.1- 6 denken wir sie uns, wie sie mit gellender Stimme verkünden: das Ge-
schlecht ist auf seiner Höhe, denn jetzt erst hat es das Wissen über sich und ist
sich selber offenbar geworden - so hätten wir ein Schauspiel, an dem als an
einem Gleichniss die räthselhafte Bedeutung einer gewissen sehr berühmten Phi-
losophie für die deutsche Bildung sich enträthseln wird] Mit der rhetorischen
Strategie einer Retardation, welche die Nennung des Eigentlichen4 verzögert
und dadurch die Erwartung steigern soll, charakterisiert N. hier die Philoso-
phie Hegels, die er erst im folgenden Satz explizit nennt. Als ,sehr berühmt4
bezeichnet er sie, weil ihr trotz der Vorbehalte mancher Kritiker eine dominan-
te Rolle für die „deutsche Bildung“ zukam, die sich auch in N.s Gegenwart
noch entsprechend auswirkte. Als exemplarisch für die umfassende und nach-
haltige Rezeption von Hegels philosophischem System können David Friedrich
Strauß’ Werk Der alte und der neue Glaube sowie Eduard von Hartmanns Philo-
sophie des Unbewußten gelten. Während N. in UB I DS heftig gegen Strauß po-
lemisiert, attackiert er Eduard von Hartmann im 9. Kapitel von UB II HL. - Mit
der vorliegenden Textpartie der Historienschrift beginnt N. seinen Angriff auf
,Hegel und die Folgen4. Wie so oft in seinem Frühwerk erweist sich N. auch
hier als Anhänger Schopenhauers, der ein erbitterter Gegner Hegels war und
ihn in seinen Werken wiederholt scharf attackierte. Dazu trug nicht zuletzt die
Opposition der weltanschaulichen Grundpositionen bei: Dem optimistischen
Glauben Hegels an einen letztlich zur Vollendung führenden und von ihm inso-
fern als sinnvoll angesehenen ,Weltprozess4 steht das pessimistische Konzept
von Schopenhauers Willensmetaphysik diametral gegenüber.
308, 7-11 Ich glaube, dass es keine gefährliche Schwankung oder Wendung der
deutschen Bildung in diesem Jahrhundert gegeben hat, die nicht durch die unge-
heure bis diesen Augenblick fortströmende Einwirkung dieser Philosophie, der
Hegelischen, gefährlicher geworden ist.] Nach einer von David Friedrich Strauß
vorgeschlagenen Differenzierung formierten sich die an Hegel anschließenden
philosophischen Richtungen als ,Hegelsche Rechte4 und als ,Hegelsche Linke4.
 
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