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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0558
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532 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

Die Rechts- oder Althegelianer (Carl Friedrich Göschei, Carl Daub, Philipp Con-
rad Marheineke, später auch Johann Eduard Erdmann) stellten Hegels Philoso-
phie in den Horizont des Christentums und legten sie in konservativem Sinne
aus. Die Links- oder Junghegelianer (Arnold Rüge, David Friedrich Strauß, Bru-
no Bauer, Ludwig Feuerbach und andere) hingegen deuteten die Hegelsche
Philosophie revolutionär und interpretierten sie im Zusammenhang mit einer
radikalen Historisierung tendenziell atheistisch. Marx und Engels übernahmen
zwar die dialektische Methode Hegels, seine Theorie der Entfremdung und der
Arbeit, stellten ihn zugleich aber „vom Kopf auf die Füße“, indem sie den abso-
luten Idealismus Hegels verwarfen und eine materialistische Grundlage an sei-
ne Stelle treten ließen. - Unter dem Einfluss Ludwig Feuerbachs strahlte He-
gels Philosophie auch in eines der bedeutendsten literarischen Werke der
Epoche aus: in Gottfried Kellers Roman Der Grüne Heinrich (1. Fassung 1855).
Keller hatte Feuerbach 1848 in Heidelberg noch selbst gehört. In kritischer Bre-
chung wirkte Hegels Philosophie auch bei einigen Autoren fort, auf die sich N.
ebenfalls bezog: etwa bei Friedrich Theodor Vischer und Kuno Fischer sowie
bei Eduard von Hartmann, dessen Philosophie des Unbewußten im 9. Kapitel
der Historienschrift in den Fokus von N.s Kritik rückt.
308,11-16 Wahrhaftig, lähmend und verstimmend ist der Glaube, ein Spätling
der Zeiten zu sein: furchtbar und zerstörend muss es aber erscheinen, wenn ein
solcher Glaube eines Tages mit kecker Umstülpung diesen Spätling als den wah-
ren Sinn und Zweck alles früher Geschehenen vergöttert, wenn sein wissendes
Elend einer Vollendung der Weltgeschichte gleichgesetzt wird] Im Vergleich mit
seiner Kritik am zeitgenössischen Epigonenbewusstsein, das jedes kreative Po-
tential ersticken und zur Lethargie führen kann, hält N. einen antagonistischen
Reflex, der die Problemsituation mithilfe eines Avantgardisten-Bewusstseins
zu eskamotieren versucht, für nicht weniger anfechtbar. Deshalb betont er hier
die destruktiven Wirkungen einer Selbstapotheose, die das schwache Ego des
Epigonen durch kompensatorische Hybris aufwerten soll und dafür auch die
Verkehrung der realen Gegebenheiten in Kauf nimmt. Zugleich wendet sich N.
mit seiner kritischen Feststellung implizit auch konkret gegen die teleologische
Geschichtskonzeption bei Hegel und Eduard von Hartmann (vgl. dazu die Bele-
ge und Erläuterungen in NK 308, 19-26 und NK 308, 30-32 sowie NK 312, 14-
19). Das zeigt die Fortführung des Gedankens: „Eine solche Betrachtungsart
hat die Deutschen daran gewöhnt, vom ,Weltprozess4 zu reden und die eigne
Zeit als das nothwendige Resultat dieses Weltprozesses zu rechtfertigen; eine
solche Betrachtungsart hat die Geschichte an Stelle der anderen geistigen
Mächte, Kunst und Religion, als einzig souverän gesetzt, insofern sie ,der sich
selbst realisirende Begriff4, in sofern sie ,die Dialektik der Völkergeister4 und
das ,Weltgericht4 ist“ (308, 17-23). Evident wird die Bezugnahme auf Hegel,
 
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