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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0560
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534 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

schichte ist ihre Gesamtbiographie“ (Spengler: Der Untergang des Abendlan-
des, 7. Aufl. 1983, 140). - Vier Jahre später vollzieht Ernst Troeltsch 1922 in
seinem Buch Der Historismus und seine Probleme (I. Buch: Das logische Problem
der Geschichtsphilosophie) eine Abkehr von teleologisch akzentuierter Ge-
schichtsphilosophie, indem er im Rückblick auf die Diskursgeschichte eine
„Problemverschiebung“ feststellt: „an Stelle der auf Natur-, Geistes- oder Welt-
gesetze begründeten objektiven Teleologie und Kontemplation des Gesamtver-
laufes der Menschheit tritt die vom Subjekt her zu schaffende gegenwärtige
Kultursynthese des Europäismus, allerdings auf dem Untergründe einer Uni-
versalgeschichte des Europäismus“ (Troeltsch 1922, VII—VIII).
N. wendet sich nicht nur in UB II HL gegen teleologische Vorstellungen
von Weltgeschichte4. Auch in anderen Werken konterkariert er sie durch desil-
lusionierende Perspektiven auf menschliche Hybris, besonders markant bereits
1873 in der Anfangspassage seiner nachgelassenen Frühschrift Ueber Wahrheit
und Lüge im aussermoralischen Sinne (vgl. KSA 1, 875, 2-5). Hier entwirft er
hypothetisch eine ,Fabel4 über die „hochmüthigste und verlogenste Minute der
Weltgeschichte4“ (KSA 1, 875, 5), die er in der ersten seiner Fünf Vorreden zu
fünf ungeschriebenen Büchern unter dem Titel Ueber das Pathos der Wahrheit
folgendermaßen einleitet: „Vielleicht würde ein gefühlloser Dämon von alle-
dem, was wir mit stolzer Metapher Weltgeschichte4 und Wahrheit4 und ,Ruhm4
nennen, nichts zu sagen wissen, als diese Worte: / ,In irgend einem abgeleg-
nen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Welt-
alls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden.
Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der Weltgeschichte, aber
doch nur eine Minute. Nach wenigen Athemzügen der Natur erstarrte das Ge-
stirn, und die klugen Thiere mußten sterben“ (KSA 1, 759, 26, - 760, 1). - Zum
Spannungsfeld von Hybris-Kritik, Sprach-Skepsis und Experimental-Meta-
phorik bei N. (unter Rekurs auch auf WL) vgl. Neymeyr 2014a, 232-254 und
2016b, 323-353.
Unter dem Titel „Die Grundirrthümer“ (KSA 2, 547, 20) reflektiert N.
in Menschliches, Allzumenschliches II (MA II, WS 12) auch die Illusion, dass
allein der „Mensch der Freie in der Welt der Unfreiheit sei, der ewige Wun-
dertäter, seies dass er gut oder böse handelt, die erstaunliche Ausnahme,
das Ueberthier, der Fast-Gott, der Sinn der Schöpfung, der Nichthinwegzuden-
kende, das Lösungswort des kosmischen Räthsels, der grosse Herrscher über
die Natur und Verächter derselben, das Wesen, das seine Geschichte Weltge-
schichte nennt! - Vanitas vanitatum homo“ (KSA 2, 548,1-7). In der Morgen-
röthe setzt sich diese kritische Grundtendenz fort, wenn N. „die langen pfadsu-
chenden und grundlegenden Jahrtausende“ in den Blick rückt, „an welche
man freilich nicht denkt, wenn man, wie gewohnt, von Weltgeschichte4, von
 
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