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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0562
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536 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

Auch in einem nachgelassenen Notat aus der Entstehungszeit der Histori-
enschrift zitiert N. Hegel und ironisiert dabei dessen Geschichtskonzept: „He-
gel ,wenn der Geist einen Ruck macht, da sind wir Philosophen auch dabei/
In der Philosophie ist es der Geist eines Volkes, der Geist einer Zeit, der sich
darin zum Bewusstsein kommt. Nun da wird wohl auch bei Hartmann etwas
von dem ironischen Bewusstsein zu finden <sein.> / Gott soll ,der in allen Völ-
kergeistern thätige allgemeine Geist der Menschheit4 sein, die Erhebung zum
Genuss der Idee an und für sich soll Religion sein. Hegel: ,die allgemeine
Weltgeschichte, deren Begebenheiten die Dialektik der besonderen Vö 1 -
ker geister, - die er auf Fläschchen hat, - das Weltgericht darstellt444 (NL 1873,
29 [72], KSA 7, 660). Anschließend setzt sich N. hier mit dem von Hegel propa-
gierten teleologischen Geschichtsbild auseinander: Er kritisiert die von Hegel
vorausgesetzte spekulative Analogie zwischen der zweckmäßigen Handlungs-
konzeption von „Kindermährchen“ und einem „der Weltgeschichte“ zugrunde
liegenden „Endzweck“, der auf einen „Plan der Vorsehung“ und auf die „an
und für sich nothwendig“ gegebene „Vernunft in der Geschichte“ verweise
(NL 1873, 29 [72], KSA 7, 660-661). - Jacob Burckhardt beanstandete an Hegels
Vorstellung von der vernünftigen Zweckmäßigkeit im Prozess der Weltge-
schichte eine petitio principii, und zwar in seiner Vorlesung Ueber das Studium
der Geschichte. Zu deren Hörern zählte im Wintersemester 1870/71 auch N., der
in Burckhardts einstündigem „Colleg“ als „der Einzige seiner 60 Hörer [...] die
tiefen Gedankengänge mit ihren seltsamen Brechungen und Umbiegungen“ zu
begreifen meinte (KSB 3, Nr. 107, S. 155). Befremdet reagierte Burckhardt in sei-
ner Vorlesung auf Hegels Ansicht: „Wer die Welt vernünftig ansieht, den sieht
sie auch vernünftig an. (0 du Zopf!)“ (Burckhardt: Über das Studium der Ge-
schichte. Der Text der Weltgeschichtlichen Betrachtungen4,1982,152-153,170).
Als zirkulär erweist sich Hegels Argumentation, weil sie im Rahmen seiner te-
leologischen Geschichtskonzeption unhinterfragt voraussetzt, was allererst zu
beweisen wäre.
Die Gerichtsthematik spielt in N.s Frühwerk insgesamt eine wesentliche
Rolle. Sie ist bereits in der Geburt der Tragödie präsent und wird von ihm in
unterschiedlichen gedanklichen Zusammenhängen auch mit variablen kultur-
historischen Horizontbildungen entfaltet. Vorstellungen vom „Gericht“ und
vom „Richter“ bestimmen noch weitere Textpassagen in UBII HL. Zu den dafür
relevanten Belegen vgl. NK 269, 18-21; NK 286, 13-14; NK 287, 1; NK 304, 10-
13 (vgl. ergänzend auch den Überblickskommentar). In UB III SE finden sich
biblische Vorstellungen vom Jüngsten Gericht in Verbindung mit einem reini-
genden Akt des Verbrennens, der auch mit Fragmenten Heraklits und mit na-
turphilosophischen Konzepten der stoischen Philosophie zu korrelieren ist:
vgl. dazu NK 410, 22-25.
 
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