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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0598
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572 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

an sich, der innere Gehalt, das Wesentliche der Welt ist; das Leben, die sichtba-
re Welt, die Erscheinung, aber nur der Spiegel des Willens; so wird diese den
Willen so unzertrennlich begleiten, wie den Körper sein Schatten“ (WWVI,
§ 54, Hü 324). Vgl. auch WWV I, § 71, Hü 485. - Allerdings distanziert sich N.
in der Fröhlichen Wissenschaft von diesen Prämissen der Schopenhauerschen
Willensmetaphysik, die er inzwischen als Ausdruck einer „uralten Mythologie“
betrachtet (KSA 3, 483, 15-16). Er selbst hält Schopenhauers ,Glauben4, dass
„Alles, was da sei, nur etwas Wollendes sei“ (KSA 3, 483, 15), die Auffassung
entgegen, dass es „nur bei den intellectuellen Wesen“ einen Willen gebe, da
dieser „eine Vorstellung von Lust und Unlust“ voraussetze und sich insofern
der Tätigkeit eines „interpretirenden Intellects“ verdanke (KSA 3, 483, 21-
27). Zu den vielfältigen Analogien und Differenzen zwischen Schopenhauer
und N. vgl. Neymeyr 2018, 293-304.
Martin Heidegger, der im Wintersemester 1938/39 ein Seminar zu N.s Histo-
rienschrift abhielt, setzt sich in der Verschriftlichung dieses Seminars mit N.s
Vitalismus kritisch auseinander. Im Prinzip „Ego vivo“, das N. im obigen Text-
zusammenhang von UB II HL propagiert, sieht Heidegger sogar bereits „das Ja
zum Raubtier“ angelegt (vgl. Heidegger, Bd. 46, 2003, 214). Kurz zuvor weist
Heidegger nachdrücklich auf die Irrationalismus-Problematik und eine sozial-
darwinistische Komponente in N.s Konzept des ,Lebens4 hin: „Ist der Rückgang
auf die Bedürfnisse des Lebens überhaupt Besinnung und nicht vielmehr die
Flucht vor der Besinnung und die Flucht in das Tier, das nur kraft seines Le-
bens auch schon im ,Recht4 und ,gerecht4 ist? Wie, wenn die ,höhere Gerechtig-
keit4 nur die Selbstrechtfertigung des Tieres als des Raubtieres sein könnte?“
(ebd., 213). Sowohl an der Historienschrift als auch an N.s späteren Werken
beanstandet Heidegger, „daß ,Leben4 im voraus gesetzt ist als Lebens-Steige-
rung, als die Gier nach Sieg und Beute und Macht, d. h. in sich schon: immer
mehr Macht“, einschließlich „der Gewalt als Machtmittel“ (ebd., 215). Auf die-
ser Basis deutet Heidegger N.s anticartesianische Maxime „ego vivo - ergo cogi-
to“ dann sogar radikal als „das Ja zum Raubtier“ (ebd., 214).
329, 9 das volle und grüne „Leben“] Hier kontaminiert N. zwei verschiedene
Stellen aus Goethes Faust I, die er beide paraphrasiert. In der Szene Studier-
zimmer4, die mit dem Dialog zwischen Mephistopheles und dem Schüler endet,
gibt Mephistopheles diesem zu bedenken: „Grau, teurer Freund, ist alle Theo-
rie, / Und grün des Lebens goldner Baum“ (V. 2038-2039). Und im Vorspiel auf
dem Theater4 erklärt die lustige Person: „Laßt uns auch so ein Schauspiel ge-
ben! / Greift nur hinein ins volle Menschenleben!“ (V. 166-167). - Dass Goethes
Faust-Dramen für N. von besonderer Bedeutung waren, erhellt nicht nur aus
zahlreichen impliziten Zitaten in seinen Werken, sondern auch daraus, dass er
in UB IIISE zwischen den Menschenbildern Rousseaus, Goethes und Schopen-
 
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