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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0609
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Stellenkommentar UB II HL 10, KSA 1, S. 334 583

Anschließend leitet Wagner, der zu dieser Zeit sein früheres Pamphlet Das
Judentum in der Musik neu auflegen ließ, zu dem damals bedeutenden Musik-
kritiker Eduard Hanslick über, der ebenfalls jüdischer Herkunft war. Erneut
funktionalisiert Wagner dabei die Opposition von ,Bildung4 und bloßer Gebil-
detheit4. Hanslick, den Verdi als den ,Bismarck der Musikkritik4 ansah, galt
zugleich als ein entschiedener Kritiker der Wagnerschen Musik. Vor diesem
Hintergrund einer persönlich motivierten Aversion artikuliert Wagner in der
Schrift Über das Dirigiren den „Unmuth44, der den „deutschen Musiker44 befalle,
„wenn er heut’ zu Tage gewahren muß, daß diese nichtige Gebildetheit sich
auch ein Urtheil über den Geist und die Bedeutung unserer herrlichen Musik
anmaaßen will“ (vgl. GSD VIII, 313-315).
Wie Wagner zielt auch N. im vorliegenden Kontext von UB II HL auf eine
von Innen her formierte „Bildung“. Während N. sie allein für genuin und subs-
tantiell hält, betrachtet er die bloße „Gebildetheit“ als eine rein äußerliche,
mithin unauthentische Zutat und bezeichnet sie als Versatzstück einer ledig-
lich „dekorativen Cultur“ (334, 12-13). Zur Korrelation zwischen echter „Bil-
dung“ und bloßer „Gebildetheit“ vgl. ausführlicher NK 275, 2-3. - Im zweiten
Vortrag Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten erklärt N.: „Was dagegen
sich jetzt mit besonderem Dünkel,deutsche Kultur4 nennt, ist ein kosmopoliti-
sches Aggregat, das sich zum deutschen Geiste verhält, wie der Journalist zu
Schiller, wie Meyerbeer zu Beethoven: hier übt den stärksten Einfluß die im
tiefsten Fundamente ungermanische Civilisation der Franzosen“ (KSA 1, 690,
6-11).
Zur vorliegenden Schlusspassage von UB II HL findet sich in den Korrek-
turbögen die folgende Fortsetzung, die N. für den Druck dann eliminierte:
„Und was wird aus uns? werden die Historiker am Schlüsse meiner Betrach-
tung unwillig einwenden. Wohin soll die Wissenschaft der Historie, unsre be-
rühmte strenge nüchterne methodische Wissenschaft? - Geh in ein Kloster,
Ophelia, sagt Hamlet; in welches Kloster wir aber die Wissenschaft und den
historischen Gelehrten bannen wollen, diese Räthsel wird der Leser sich selber
aufgeben, sich selber lösen, falls er zu ungeduldig ist, dem Gange des Autors
zu folgen und einer hiermit versprochnen Betrachtung ,über den Gelehrten und
über die gedankenlose Einordnung desselben in die moderne Gesellschaft4 vo-
ranzueilen vorzieht“ (KSA 14, 73-74). - Mit dieser Bezeichnung meinte N. da-
mals noch die vierte der dreizehn von ihm ursprünglich geplanten Unzeitge-
mässen Betrachtungen, mit denen er seine Kulturkritik in verschiedenen
Facetten entfalten wollte. Das zeigen die folgenden provisorischen Werktitel,
die N. im Zeitraum zwischen Herbst 1873 und Winter 1873/74 notierte: „Entwurf
der Unzeitgemässen Betrachtungen4.1. Der Bildungsphilister. / 2. Ge-
schichte. / 3. Philosoph. / 4. Gelehrte. / 5. Kunst. / 6. Lehrer. / 7. Religion. /
 
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