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Scheibenberger, Sarah; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,3): Kommentar zu Nietzsches "Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69927#0023
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6 Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne

Ein Blick in die das sogenannte „Philosophenbuch" vorbereitenden Notate
vom Sommer 1872 zeigt, wie eng das in WL zentrale Thema „Wahrheit und
Lüge" zunächst mit N.s Reflexionen zu den „vorplatonischen Philosophen"
verflochten war und zu dem Entwurf eines „Philosophen-Künstlers"
(NL 1872/73, KSA 7, 19[39], 431, 12-13) hinführte. Bei den Vorplatonikern macht
N. einzeltypische Denk- und Lebensformen aus, die auf „lauter Übertragungen
des Menschen auf die Natur" (KSA 7, 19[134], 462, 8-9) basieren. Deren ästheti-
sche und damit veritative Dimension gehe mit Sokrates verloren. Anhand der
Notizen der Fragmentgruppe 19 (Heft P I 20b, Sommer 1872 - Anfang 1873) lässt
sich die ursprüngliche Verbindung zwischen WL und PHG, der unvollständig
gebliebenen und erst aus dem Nachlass veröffentlichten Schrift, nachvollzie-
hen. So scheinen die in den Nachlassfragmenten entwickelten Gedanken über
den Wert von Wahrheit und Lüge, die z. T. wörtlich in WL eingingen, als eine
„Einleitung über Wahrheit und Lüge" (KSA 7, 19[191], 478, 24) für
eine „Geschichte der griechischen Philosophie" (KSA 7, 19[190],
478, 12) konzipiert gewesen zu sein. Für die WL-affine „Einleitung" skizziert N.
erste Titelentwürfe: „Einleitung über Wahrheit und Lüge. 1. Das
Pathos der Wahrheit. 2. Die Genesis der Wahrheit. 3. - - - "
(KSA 7, 19[191], 478, 24-27). N.s Gedanken über Wahrheit und Lüge drohten
aber vermutlich den Rahmen einer philosophisch-geschichtlichen Darstellung
der griechischen Philosophie und die damit verbundenen kulturkritischen Re-
flexionen über die Stellung des Philosophen zu sprengen und wurden daher
ausgegliedert. Unter dem Titel „Der letzte Philosoph" fasste N. einen letzten
nicht ausgeführten Plan zur Darstellung der vorplatonischen Philosophen, wo-
bei die Themen Wahrheit und Illusion, Philosophie und Wissenschaft u. a. in
Auseinandersetzung mit Positionen Kants und Schopenhauers behandelt wer-
den.
Ein frühes Zeugnis für den auch WL grundierenden Kritizismus N.s liegt
schon mit dem sog. Teleologie-Fragment von April/Mai 1868 vor, in welchem
sich N. mit Kants dritter Kritik auseinandersetzt. N.s Kant-Studium wird beglei-
tet von der Lektüre v. a. von Friedrich Albert Langes Geschichte des Materialis-
mus und Kuno Fischers Geschichte der neuern Philosophie (vgl. Gentili 2010,
111). Anhand des Motivs des äußeren Zwecks der Natur etwa sucht N. zu bewei-
sen, wie durch metaphysische Annahmen die von den Wissenschaften behaup-
tete „strenge Nothwendigkeit fortwährend unterbrochen wird" (KGW I/4,
62[18], 555). Die Wissenschaften verraten deshalb - dieser Gedanke liegt auch
der in WL formulierten Wissenschaftskritik zugrunde - ihr metaphorisches We-
sen zwangsweise selbst (vgl. NK 885, 17-19).
N.s kritische Auseinandersetzung mit den Wissenschaften hat zunächst be-
sonders die Methoden der Philologen seiner Zeit zum Gegenstand, die er in GT
spöttisch als „naturhistorische Sprachmikroskopiker" charakterisiert (GT 20,
 
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