24 Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne
rhapsodische Duktus des Textes lassen aber auf eine Lektüre von WL schlie-
ßen.
Thomas Manns frühe Erzählung Enttäuschung, die vermutlich im Novem-
ber 1896 entstand, handelt von einer schmerzhaft erfahrenen Diskrepanz zwi-
schen dem Reichtum der von der Sprache evozierten Erlebnismöglichkeiten
und der tatsächlichen „Dürftigkeit und Begrenztheit des Lebens" (Mann 2004,
83), das nur banale Erfahrungen zulässt. Das Leben enttäuscht, wie der Züge
Nietzsches tragende Protagonist dem Ich-Erzähler berichtet, die eigenen „groß-
artigen Erwartungen vom Leben" (Mann 2004, 83) stets aufs Neue. Nicht nur
aber bleibt es weit hinter diesen Erwartungen zurück: Es desillusioniert und
entzaubert (ent-täuscht) zugleich die hochfliegenden Vorstellungen, die von
rhetorischen „großen Wörtern für Gut und Böse, Schön und Häßlich" (Mann
2004, 81) und von Dichterworten genährt werden. Nicht die unzulängliche
Sprache ist hier Gegenstand der Kritik und Grund der krisenhaften (doch zu-
gleich ironisch verfremdeten) Verfassung des Protagonisten, sondern in einer
Inversion gängiger Sprachkritik das bloße Leben (vgl. Neymeyr 1997 u. 2013).
Es ließe sich eine Reihe weiterer Analogien aufzeigen. Der Umstand, dass
Mann ab 1895 die Bände der Großoktavausgabe sammelte und studierte (Reed
2004, 40-41), legt zumindest die Vermutung nahe, Mann habe WL vor Abfas-
sung seiner Erzählung gelesen.
Als bedeutendstes Dokument für N.s poetische Wirkung auf die Schrift-
steller der Jahrhundertwende gilt in der Forschung Hugo von Hofmannsthals
Ein Brief (1902), der unter dem Titel Chandos-Brief bekannt ist. Da die N.-Re-
zeption geraume Zeit für die Ersterscheinung von WL das Datum 1903 statt
1896 (bzw. 1895) setzte, d. h. die zweite Auflage als erste annahm, wurde Hof-
mannsthals autobiographisch gefärbter Brief als erstes Zeugnis für die Sprach-
krise am Beginn der Moderne gehandelt. Die Rückdatierung von WL wirkte
sich entsprechend auf die Deutung auch von Hofmannsthals Brief aus. Gleich-
wohl wurde bislang davon ausgegangen, dass Hofmannsthal, der nachweis-
lich N.s Gesamtwerk gut kannte, den Brief ohne Kenntnis von WL verfasste
(vgl. Kiesel 2004, 186 u. 188). Eine neuere Studie plädiert dafür, WL als wichti-
ge Quelle für Konzeption und Bildsprache für Ein Brief und Hofmannsthals
WL-Lektüre schon für 1896 anzunehmen (Zanucchi 2010). Ähnlich wie im Fal-
le von Mauthners Beiträgen ist die Verwandtschaft zwischen den im Brief reali-
sierten sprachkritischen Einsichten und WL sicherlich nicht zu leugnen. Auf
„Berührungen" (Landauer 1903, 150) und „tiefere Zusammenhänge" (Landau-
er 1903, 150) zwischen der Sprachkritik Mauthnerscher Prägung und Hof-
mannsthals „Manifest" (Landauer 1903, 152) weist bereits Gustav Landauer
1903 in Skepsis und Mystik hin. Der melancholische Philipp Lord Chandos
schreibt in Ein Brief seinem Mentor Bacon von einer gegenwärtigen Sinnkrise,
rhapsodische Duktus des Textes lassen aber auf eine Lektüre von WL schlie-
ßen.
Thomas Manns frühe Erzählung Enttäuschung, die vermutlich im Novem-
ber 1896 entstand, handelt von einer schmerzhaft erfahrenen Diskrepanz zwi-
schen dem Reichtum der von der Sprache evozierten Erlebnismöglichkeiten
und der tatsächlichen „Dürftigkeit und Begrenztheit des Lebens" (Mann 2004,
83), das nur banale Erfahrungen zulässt. Das Leben enttäuscht, wie der Züge
Nietzsches tragende Protagonist dem Ich-Erzähler berichtet, die eigenen „groß-
artigen Erwartungen vom Leben" (Mann 2004, 83) stets aufs Neue. Nicht nur
aber bleibt es weit hinter diesen Erwartungen zurück: Es desillusioniert und
entzaubert (ent-täuscht) zugleich die hochfliegenden Vorstellungen, die von
rhetorischen „großen Wörtern für Gut und Böse, Schön und Häßlich" (Mann
2004, 81) und von Dichterworten genährt werden. Nicht die unzulängliche
Sprache ist hier Gegenstand der Kritik und Grund der krisenhaften (doch zu-
gleich ironisch verfremdeten) Verfassung des Protagonisten, sondern in einer
Inversion gängiger Sprachkritik das bloße Leben (vgl. Neymeyr 1997 u. 2013).
Es ließe sich eine Reihe weiterer Analogien aufzeigen. Der Umstand, dass
Mann ab 1895 die Bände der Großoktavausgabe sammelte und studierte (Reed
2004, 40-41), legt zumindest die Vermutung nahe, Mann habe WL vor Abfas-
sung seiner Erzählung gelesen.
Als bedeutendstes Dokument für N.s poetische Wirkung auf die Schrift-
steller der Jahrhundertwende gilt in der Forschung Hugo von Hofmannsthals
Ein Brief (1902), der unter dem Titel Chandos-Brief bekannt ist. Da die N.-Re-
zeption geraume Zeit für die Ersterscheinung von WL das Datum 1903 statt
1896 (bzw. 1895) setzte, d. h. die zweite Auflage als erste annahm, wurde Hof-
mannsthals autobiographisch gefärbter Brief als erstes Zeugnis für die Sprach-
krise am Beginn der Moderne gehandelt. Die Rückdatierung von WL wirkte
sich entsprechend auf die Deutung auch von Hofmannsthals Brief aus. Gleich-
wohl wurde bislang davon ausgegangen, dass Hofmannsthal, der nachweis-
lich N.s Gesamtwerk gut kannte, den Brief ohne Kenntnis von WL verfasste
(vgl. Kiesel 2004, 186 u. 188). Eine neuere Studie plädiert dafür, WL als wichti-
ge Quelle für Konzeption und Bildsprache für Ein Brief und Hofmannsthals
WL-Lektüre schon für 1896 anzunehmen (Zanucchi 2010). Ähnlich wie im Fal-
le von Mauthners Beiträgen ist die Verwandtschaft zwischen den im Brief reali-
sierten sprachkritischen Einsichten und WL sicherlich nicht zu leugnen. Auf
„Berührungen" (Landauer 1903, 150) und „tiefere Zusammenhänge" (Landau-
er 1903, 150) zwischen der Sprachkritik Mauthnerscher Prägung und Hof-
mannsthals „Manifest" (Landauer 1903, 152) weist bereits Gustav Landauer
1903 in Skepsis und Mystik hin. Der melancholische Philipp Lord Chandos
schreibt in Ein Brief seinem Mentor Bacon von einer gegenwärtigen Sinnkrise,