28 Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne
Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute
der „ Weltgeschichte": aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Athemzügen der
Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere mussten sterben. - So könnte
Jemand eine Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illustrirt haben, wie
kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der
menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt;] Die „Fabel" (875, 8), mit
der WL einsetzt, ist die brillante Endfassung einer poetischen Miniatur, deren
frühere Varianten sich nicht nur in N.s eigenem Werk ausmachen lassen.
Schon hier erweist sich das Sprachbild als „nicht genügend" (875, 8-9), um
einen außersprachlichen Sachverhalt adäquat darzustellen, ja die Verwendung
des Irrealis in der Kommentierung der Fabel unterstreicht die Unzulänglichkeit
jeder Deskription qua Sprache. Zugleich aber symbolisiert die literarische
Kleinform der Fabel eine historisch gewachsene außermoralische Erkenntnis-
form und Weltsicht, welche, wie sich der GD-Aphorismus Wie die „wahre Welt"
endlich zur Fabel wurde (KSA 6, 80-81) deuten lässt, den obsolet gewordenen
Glauben an unveränderliche letzte Gewissheiten ablösen und jeden ihrer Ge-
genstände als Fiktion, als Erzählmöglichkeit, begreifen könnte (vgl. NK 6/1,
304-306).
Eine frühere und ausführlichere Variante der Fabel in Ueber das Pathos
der Wahrheit bestimmt die Folgen des Erkennens näher, indem der Erzähler,
„ein gefühlloser Dämon" (CV 1, KSA 1, 759, 26), nahtlos fortfährt: Zuletzt waren
die Menschen „dahinter gekommen, daß sie alles falsch erkannt hatten. Sie
starben und fluchten im Sterben der Wahrheit. Das war die Art dieser verzwei-
felten Thiere, die das Erkennen erfunden hatten" (CV 1, KSA 1, 760, 3-6). Die
„klugen Thiere" (CV 1, KSA 1, 759, 34) erkennen in der früheren Fabel-Version
jeden Erkenntnisanspruch selbst als verlogen und sterben verzweifelt an der
tragischen Einsicht, dass ihre vermeintliche Erkenntnisfähigkeit falsch, da blo-
ße Illusion der Vernunft ist.
In Schopenhauers WWV finden sich Passagen von auffallender Ähnlich-
keit. Bd. 2 beginnt mit den Worten: „Im unendlichen Raum zahllose leuchtende
Kugeln, um jede von welchen etwan ein Dutzend kleinerer, beleuchteter sich
wälzt, die inwendig heiß, mit erstarrter, kalter Rinde überzogen sind, auf der
ein Schimmelüberzug lebende und erkennende Wesen erzeugt hat; - dies ist
die empirische Wahrheit, das Reale, die Welt" (WWV, Bd. 2, B. 1, Kap. 1, 3; vgl.
Bd. 2, B. 4, Kap. 46, 667). Die Worte, die N. am 4. August 1871 an seinen Freund
Erwin Rohde (über Socrates und die griechische Tragoedie) schreibt: „Das Studi-
um Schopenhauer's wirst Du überall bemerkt haben, auch in der Stilistik" (N.
an Erwin Rohde, 4. 8. 1871, KSB 3/KGB II/1, Nr. 149, S. 216), haben offensicht-
lich auch für WL (noch) ihre Gültigkeit (vgl. u. a. NK 876, 6-7). Neben der kos-
mologischen Ausgestaltung der Fabel finden auch die ephemeren „erkennen-
Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute
der „ Weltgeschichte": aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Athemzügen der
Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere mussten sterben. - So könnte
Jemand eine Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illustrirt haben, wie
kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der
menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt;] Die „Fabel" (875, 8), mit
der WL einsetzt, ist die brillante Endfassung einer poetischen Miniatur, deren
frühere Varianten sich nicht nur in N.s eigenem Werk ausmachen lassen.
Schon hier erweist sich das Sprachbild als „nicht genügend" (875, 8-9), um
einen außersprachlichen Sachverhalt adäquat darzustellen, ja die Verwendung
des Irrealis in der Kommentierung der Fabel unterstreicht die Unzulänglichkeit
jeder Deskription qua Sprache. Zugleich aber symbolisiert die literarische
Kleinform der Fabel eine historisch gewachsene außermoralische Erkenntnis-
form und Weltsicht, welche, wie sich der GD-Aphorismus Wie die „wahre Welt"
endlich zur Fabel wurde (KSA 6, 80-81) deuten lässt, den obsolet gewordenen
Glauben an unveränderliche letzte Gewissheiten ablösen und jeden ihrer Ge-
genstände als Fiktion, als Erzählmöglichkeit, begreifen könnte (vgl. NK 6/1,
304-306).
Eine frühere und ausführlichere Variante der Fabel in Ueber das Pathos
der Wahrheit bestimmt die Folgen des Erkennens näher, indem der Erzähler,
„ein gefühlloser Dämon" (CV 1, KSA 1, 759, 26), nahtlos fortfährt: Zuletzt waren
die Menschen „dahinter gekommen, daß sie alles falsch erkannt hatten. Sie
starben und fluchten im Sterben der Wahrheit. Das war die Art dieser verzwei-
felten Thiere, die das Erkennen erfunden hatten" (CV 1, KSA 1, 760, 3-6). Die
„klugen Thiere" (CV 1, KSA 1, 759, 34) erkennen in der früheren Fabel-Version
jeden Erkenntnisanspruch selbst als verlogen und sterben verzweifelt an der
tragischen Einsicht, dass ihre vermeintliche Erkenntnisfähigkeit falsch, da blo-
ße Illusion der Vernunft ist.
In Schopenhauers WWV finden sich Passagen von auffallender Ähnlich-
keit. Bd. 2 beginnt mit den Worten: „Im unendlichen Raum zahllose leuchtende
Kugeln, um jede von welchen etwan ein Dutzend kleinerer, beleuchteter sich
wälzt, die inwendig heiß, mit erstarrter, kalter Rinde überzogen sind, auf der
ein Schimmelüberzug lebende und erkennende Wesen erzeugt hat; - dies ist
die empirische Wahrheit, das Reale, die Welt" (WWV, Bd. 2, B. 1, Kap. 1, 3; vgl.
Bd. 2, B. 4, Kap. 46, 667). Die Worte, die N. am 4. August 1871 an seinen Freund
Erwin Rohde (über Socrates und die griechische Tragoedie) schreibt: „Das Studi-
um Schopenhauer's wirst Du überall bemerkt haben, auch in der Stilistik" (N.
an Erwin Rohde, 4. 8. 1871, KSB 3/KGB II/1, Nr. 149, S. 216), haben offensicht-
lich auch für WL (noch) ihre Gültigkeit (vgl. u. a. NK 876, 6-7). Neben der kos-
mologischen Ausgestaltung der Fabel finden auch die ephemeren „erkennen-