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Stellenkommentar WL 1, KSA 1, S. 875 31

schichte" (UB II HL 8, KSA 1, 308, 24) zu lesen, die das Elend des heutigen
Menschen als „Vollendung der Weltgeschichte" (UB II HL 8, KSA 1, 308, 16)
bzw. des „Weltprozesses" (UB II HL 8, KSA 1, 308, 19), wie N. auch schreibt,
interpretiert. Eine solche fortschrittsgläubige Geschichtsauffassung setzt für N.
die Geschichte als den „,sich selbst realisirende[n] Begriff"', als (mit Schiller)
„Weltgericht" (UB II HL 8, KSA 1, 308, 22-23). Die „stolze[r] Metapher ,Weltge-
schichte'" (CV 1, KSA 1, 759, 27) inszeniert das Weltgeschehen als zweckgemä-
ße und parabolische Evolution zum pathetischen Menschen hin. Dieser bezahlt
sein Selbstverständnis als Krone der Geschichte jedoch damit, dass auf den
Moment der Hybris der Niedergang folgen muss. Nur ein kritischer histori-
scher, d. h. aber ein ,begriffsgeschichtlicher Sinn' vermöchte den Glauben an
Fortschritt und an invariante Begriffe als Fiktion zu entlarven (vgl. dazu Som-
mer 2015). Auch Jacob Burckhardt polemisiert in seinen Weltgeschichtlichen Be-
trachtungen, die N. als „Colleg über das Studium der Geschichte" (N. an Carl
von Gersdorff, 7. 11. 1870, KSB 3/KGB II/1, Nr. 107, S. 155) in Basel gehört hat,
gegen Hegels „kecke[s] Antizipieren eines Weltplanes" (Burckhardt 1905, 3).
Weltgeschichte und Sprachgeschichte bringen z. B. Gerber (SK, 15 u. 150)
und Hartmann miteinander in Verbindung. Dieser sieht „in der Entstehung der
Sprache und den grossen politischen und socialen Bewegungen in der Weltge-
schichte" denselben unbewussten „Masseninstinct" am Werk (Hartmann 1869,
77). Hartmanns metaphysisches Konzept eines teleologischen „Weltprocesses"
(Hartmann 1869, 633), der mit dem „Entwickelungsprocess der Menschheit"
(Hartmann 1869, 576) identisch ist, parodiert N. auch in UB II: eine weitere
Invektive gegen die Hegelsche Geschichtsphilosophie, die schon Schopenhau-
er attackiert hatte (vgl. NL 1872/73, KSA 7, 19[160], 469, zu N.s Polemik gegen
Hartmanns Gedanken eines unbewussten Weltprozesses).
875, 16-18 Könnten wir uns aber mit der Mücke verständigen, so würden wir
vernehmen, dass auch sie mit diesem Pathos durch die Luft schwimmt] Die „Mü-
cke" wird in 884, 2 als „Insekt" wieder aufgenommen und dient wie der „Vogel"
(884, 2 u. 885, 15), der „Wurm" oder die „Pflanze" (885, 15) der Illustration
verschiedener Welt-Perzeptionen. Der jeweilige „Perceptionsapparat" bedingt
die Wahrnehmung der Welt und enthält zugleich das sinnliche Vermögen, wel-
ches Möglichkeit und Modus des Vergleichs und der Übereinstimmung von
Wahrnehmungen determiniert: „Der ungeheure Consensus der Menschen über
die Dinge beweist die volle Gleichartigkeit ihres Perceptionsapparates" (NL
1872/73, KSA 7, 19[157], 468, 18-19). Die eigene Perzeptionsweise ist für N. nicht
objektivierbar, ein Wechsel in eine andere ist unmöglich. Einen „Maassstabe
der richtigen Perception" (884, 5) gibt es nicht: „Für die Pflanze ist die
Welt so und so - für uns so und so. Vergleichen wir die beiden Perceptionskräf-
te, so gilt uns unsre Auffassung der Welt als richtiger d. h. der Wahrheit ent-
 
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