Stellenkommentar WL 1, KSA 1, S. 876 35
Beziehungen zu Andern." Um die Genese des Intellekts und seine Wirkungen
zu illustrieren, verwendet N. seit der Antike gebräuchliche Schauspielmeta-
phern (vgl. später „Maskerade", 888, 1 und „Maske", 890, 9-11), die wiederholt
auch auf das Kapitel in Schopenhauers WWV hindeuten, das mit WL eine Rei-
he von Übereinstimmungen im Gebrauch von Begriffen und literarischen Topoi
aufweist (vgl. WWV, Bd. 2, B. 4, Kap. 46, 667; vgl. u. a. NK 875, 2-11 u. 876, 6-
7). Anders als für Schopenhauer, der der Menschheit Heuchelei vorwirft, ver-
läuft für N. die „Verstellungskunst" (876, 20) des Menschen unbewusst, da ihr
Ursprung im schrecklichen „Kampf um die Existenz" (876, 18) von Konventio-
nen notwendig verhüllt und vergessen wird: Die Natur bannt den Menschen
„in ein stolzes gauklerisches Bewusstsein" (877, 8-9).
Für die Entfaltung der „Verstellungskunst" (876, 20), wie N. sie beschreibt,
sind die Menschen also zwar zu bewundern, sie ist aber gerade nicht ein Zei-
chen ihrer Stärke. Im Gegensatz zu einem verbreiteten (moralisch gefärbten)
darwinistischen Fortschrittsoptimismus der Vervollkommnung der Gattungen
geht N. davon aus, dass es die Anpassungsfähigkeit und Klugheit der Schwa-
chen ist, die sich letztlich im Selektionsprozess durchsetzt (durchaus im Sinne
von Darwins Konzept eines survival of the fittest, vgl. Stack 1983, 159, u. Som-
mer 2012, 228-232). Diese gelungene Anpassung an die Gegebenheiten einer
feindseligen Umwelt vergleicht N. wiederholt mit dem von Darwin im Tierreich
beobachteten Phänomen der Mimikry (vgl. etwa GD Streifzüge eines Unzeitge-
mässen 14, KSA 6, 121, 8-9), ja „im Menschen kommt diese Verstellungskunst
auf ihren Gipfel" (876, 20; vgl. FW 361, KSA 3, 608, 28-29, zur „Kunst des
ewigen Verstecken-Spielens, das man bei Thieren mimicry nennt"), insofern
sie sich mit (moralischen) Namen maskiert (vgl. Stack 1983, 177-180; vgl. NK
KSA 6, 121, 6-10).
876, 30 „Formen"] Der Begriff der Form, wie er in diesem Kontext verwendet
wird, kann verstanden werden als Synonym für die Prinzipien von Gesetzmä-
ßigkeit und Identität in der Natur im Sinne einer Erkenntnistheorie rationalisti-
scher (und sicherlich auch platonischer) Prägung. Für N. zeigt sich solche
Identität durch eine Ipseität der Gesetze, welche das Erkennen konstituieren:
„Alles Erkennen ist ein Wiederspiegeln in ganz bestimmten Formen, die von
vornherein nicht existiren" (NL 1872/73, KSA 7, 19[133], 462, 1-2). Im Hinblick
auf dieses epistemologische Modell, das N. rückbindet auf das physiologische
des Perzeptionsapparates, denkt N. die Idee einer natura formans, deren Prinzi-
pien sich nach und nach in den einzelnen Phänomenen synthetisch spezifizie-
ren. So heißt es auch in WL: „Das Uebersehen des Individuellen und Wirkli-
chen giebt uns den Begriff, wie es uns auch die Form giebt, wohingegen die
Natur keine Formen und Begriffe [...] kennt" (880, 21-23).
Beziehungen zu Andern." Um die Genese des Intellekts und seine Wirkungen
zu illustrieren, verwendet N. seit der Antike gebräuchliche Schauspielmeta-
phern (vgl. später „Maskerade", 888, 1 und „Maske", 890, 9-11), die wiederholt
auch auf das Kapitel in Schopenhauers WWV hindeuten, das mit WL eine Rei-
he von Übereinstimmungen im Gebrauch von Begriffen und literarischen Topoi
aufweist (vgl. WWV, Bd. 2, B. 4, Kap. 46, 667; vgl. u. a. NK 875, 2-11 u. 876, 6-
7). Anders als für Schopenhauer, der der Menschheit Heuchelei vorwirft, ver-
läuft für N. die „Verstellungskunst" (876, 20) des Menschen unbewusst, da ihr
Ursprung im schrecklichen „Kampf um die Existenz" (876, 18) von Konventio-
nen notwendig verhüllt und vergessen wird: Die Natur bannt den Menschen
„in ein stolzes gauklerisches Bewusstsein" (877, 8-9).
Für die Entfaltung der „Verstellungskunst" (876, 20), wie N. sie beschreibt,
sind die Menschen also zwar zu bewundern, sie ist aber gerade nicht ein Zei-
chen ihrer Stärke. Im Gegensatz zu einem verbreiteten (moralisch gefärbten)
darwinistischen Fortschrittsoptimismus der Vervollkommnung der Gattungen
geht N. davon aus, dass es die Anpassungsfähigkeit und Klugheit der Schwa-
chen ist, die sich letztlich im Selektionsprozess durchsetzt (durchaus im Sinne
von Darwins Konzept eines survival of the fittest, vgl. Stack 1983, 159, u. Som-
mer 2012, 228-232). Diese gelungene Anpassung an die Gegebenheiten einer
feindseligen Umwelt vergleicht N. wiederholt mit dem von Darwin im Tierreich
beobachteten Phänomen der Mimikry (vgl. etwa GD Streifzüge eines Unzeitge-
mässen 14, KSA 6, 121, 8-9), ja „im Menschen kommt diese Verstellungskunst
auf ihren Gipfel" (876, 20; vgl. FW 361, KSA 3, 608, 28-29, zur „Kunst des
ewigen Verstecken-Spielens, das man bei Thieren mimicry nennt"), insofern
sie sich mit (moralischen) Namen maskiert (vgl. Stack 1983, 177-180; vgl. NK
KSA 6, 121, 6-10).
876, 30 „Formen"] Der Begriff der Form, wie er in diesem Kontext verwendet
wird, kann verstanden werden als Synonym für die Prinzipien von Gesetzmä-
ßigkeit und Identität in der Natur im Sinne einer Erkenntnistheorie rationalisti-
scher (und sicherlich auch platonischer) Prägung. Für N. zeigt sich solche
Identität durch eine Ipseität der Gesetze, welche das Erkennen konstituieren:
„Alles Erkennen ist ein Wiederspiegeln in ganz bestimmten Formen, die von
vornherein nicht existiren" (NL 1872/73, KSA 7, 19[133], 462, 1-2). Im Hinblick
auf dieses epistemologische Modell, das N. rückbindet auf das physiologische
des Perzeptionsapparates, denkt N. die Idee einer natura formans, deren Prinzi-
pien sich nach und nach in den einzelnen Phänomenen synthetisch spezifizie-
ren. So heißt es auch in WL: „Das Uebersehen des Individuellen und Wirkli-
chen giebt uns den Begriff, wie es uns auch die Form giebt, wohingegen die
Natur keine Formen und Begriffe [...] kennt" (880, 21-23).