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Scheibenberger, Sarah; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,3): Kommentar zu Nietzsches "Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69927#0053
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36 Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne

877, 5-15 Nahezu identisch in CV 1: Ueber das Pathos der Wahrheit, KSA 1,
760, 13-23.
877, 5-9 Verschweigt die Natur ihm nicht das Allermeiste, selbst über seinen
Körper, um ihn, abseits von den Windungen der Gedärme, dem raschen Fluss
der Blutströme, den verwickelten Fasererzitterungen, in ein stolzes gauklerisches
Bewusstsein zu bannen und einzuschliessen!] Wie die beiden Fragen nach
Selbsterkenntnis und Wahrheitstrieb (in 877, 2-3 u. 877, 15-16) beschließt N.
auch diese mit einem Ausrufezeichen (in Rs und Rs+ noch mit einem Fragezei-
chen). Sache der Natur ist es, den Menschen in ein trügerisches „Bewusstseins-
zimmer" (877, 11) „einzuschliessen" (877, 9). Sein „,Selbstbewusstsein"' (883,
34) aber ist ein Gemeinschaftsbewusstsein, geprägt von einem normierten Ras-
ter der Welterkenntnis, von der Sprache; mit dem (in N.s Handschrift Rs, nicht
mehr aber in RsG, d. i. Gersdorffs Abschrift und primärer Druckvorlage für WL)
in Anführungszeichen gesetzten Begriff des Selbstbewusstseins übt N. implizit
Kritik an Kants Konzept vom transzendentalen Selbstbewusstsein als Bedin-
gung epistemischer Vollzüge, das für ihn nur eine lebensnotwendige Fiktion
ist (vgl. Schlimgen 1998, 40-42). Insofern das bewusste Denken immer in
Sprachzeichen funktioniert, bedeutet der Verstoß gegen die „Gesetzgebung der
Sprache" (877, 28), d. i. aber die Lüge, zugleich ein Heraustreten aus dem ge-
meinschaftlichen „Bewusstseinszimmer" (877, 11). Die unkonventionelle Ver-
wendung der Sprachzeichen scheint sich so dem verdeckten Grund des Be-
wusstseins, dem ,Instinktiven' (vgl. JGB 3, KSA 5, 17, 21-24), annähern zu
können, doch ist dieser stets auch präsent im bewussten Denken.
877, 13-15 Unersättlichen, dem Mörderischen der Mensch ruht, in der Gleichgül-
tigkeit seines Nichtwissens, und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träu-
men hängend.] Die Vorlage des edierten Textes ist an dieser Stelle Rs+, d. h. N.s
einseitige Reinschrift des Anfangs von WL. In Gersdorffs Reinschrift, an der
sich der edierte Text zur Hauptsache orientiert, heißt es kürzer und punktuell
von N.s Hand korrigiert: „Unersättlichen, und gleichsam auf dem Rücken eines
Tigers der Mensch in Träumen hängt" (vgl. KGW III 5/1, 897, 32-37). Zur Rolle
der Figur von Sokrates, die sich hier hinter dem Ausdruck „in der Gleichgültig-
keit seines Nichtwissens" (877, 14) verbirgt, sei verwiesen auf NK 890, 14.
877, 15-16 Woher, in aller Welt, bei dieser Constellation der Trieb zur Wahr-
heit!] Der Wahrheitstrieb geht Hand in Hand mit einem Sprachtrieb, doch muss
die Befriedigung des Wahrheitstriebes dem Menschen letztlich verwehrt blei-
ben, ja: „Es giebt keinen Trieb nach Erkenntniss und Wahrheit, sondern nur
einen Trieb nach Glauben an die Wahrheit" (NL 1873, KSA 7, 29[14], 631, 12-
13). Die unbedingte Wahrheit wäre ruinös, da sie Sprach- und Wahrheitstrieb
auf ein physiologisches Defizit des Menschen zurückführen würde. Insofern
 
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