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Scheibenberger, Sarah; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,3): Kommentar zu Nietzsches "Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69927#0054
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Stellenkommentar WL 1, KSA 1, S. 877 37

der Wahrheitstrieb der sprachlichen Konvention verpflichtet ist, bezieht er sich
allein auf anthropomorphe Wahrheiten. Diese eigentlich illusionären Wahrhei-
ten verfestigen sich zum unbewussten „Gefühl der Wahrheit" (881, 14-15).
Wenn N. aber die Umstände der Entstehung des Wahrheitstriebes aus der
„Unbewusstheit" (881, 13-14) ins Bewusstsein hebt, erliegt die Argumen-
tation einem Paradoxon. Insofern für N. das Bewusstsein schon immer ver-
sprachlicht und damit unpersönlich ist, kann es zur Aufdeckung seiner selbst
nur wenig taugen, wie der Text auch resümiert: „Wir wissen immer noch nicht,
woher der Trieb zur Wahrheit stammt" (881, 4-5). Zugleich erzeugt das Be-
wusstsein jedoch auch gefährliche Denkgewohnheiten, die sich gegen lebens-
erhaltende Überzeugungen richten können, etwa gegen den Glauben an die
Sprache als „adäquate[n] Ausdruck aller Realitäten" (878, 15-16), d. i. die Spra-
che, die per adaequationem als Entsprechung der Realität fungiert (vgl. NK
878, 14-16). N. geriert sich so als der „Denker", den er später in FW beschreibt:
„Der Denker: das ist jetzt das Wesen, in dem der Trieb zur Wahrheit und jene
lebenerhaltenden Irrthümer ihren ersten Kampf kämpfen, nachdem auch der
Trieb zur Wahrheit sich als eine lebenerhaltende Macht bewiesen hat" (FW
110, KSA 3, 471, 10-14). WL gibt auf die Frage nach der Herkunft des Wahrheits-
triebes also keine letzte Antwort. Später wird N. in JGB den „Wille[n] zur Wahr-
heit" (JGB 1, KSA 5, 15, 4) hinterfragen und statt der Frage: „Was in uns will
eigentlich ,zur Wahrheit'?" (JGB 1, KSA 5, 15, 13-14), verstärkt die Frage „nach
dem Werthe dieses Willens" (JGB 1, KSA 5, 15, 17) stellen. An gleicher Stelle
betont er die mit dem Wahrheitstrieb verbundene Problematik: „was für Fragen
hat dieser Wille zur Wahrheit uns schon vorgelegt! Welche wunderlichen
schlimmen fragwürdigen Fragen! Das ist bereits eine lange Geschichte, - und
doch scheint es, dass sie kaum eben angefangen hat?" (JGB 1, KSA 5, 15, 6-10)
877, 22-23 bellum omnium contra omnes] Das Wort vom ,Krieg aller gegen
alle' geht zurück auf Thomas Hobbes, De Cive, Praefatio 14 (die englische For-
mel findet sich in Hobbes, Leviathan 1651, Kap. 13; vgl. NK KSA 6, 413, 1), das
die philosophische Debatte um den sog. Naturzustand anstieß. Sie reicht über
Pufendorf zu Locke, Shaftesbury und bis hin zu Rousseau. In der Mitte des
19. Jahrhunderts wird die Diskussion über den Naturzustand von der Evoluti-
onstheorie aufgegriffen. N. führt Hobbes nur selten, zunächst mit Zustimmung,
dann mit Ablehnung und Spott an (vgl. ausführlicher NK KSA 5, 195, 9-13 u.
236, 19-26). Entsprechend thematisiert er in der frühen Schrift Der griechische
Staat die Hobbessche Theorie vom Kampf aller gegen alle als ,rechtsphiloso-
phische' Prämisse, die eine militaristisch organisierte Gesellschaft legitimiert:
„ohne Staat, im natürlichen bellum omnium contra omnes [kann] die Gesell-
schaft überhaupt nicht [...] Wurzel schlagen" (CV 3, KSA 1, 772, 9-12). Ähnlich
 
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