38 Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne
wie der Staat hier als „eiserne Klammer, die den Gesellschaftsprozeß erzwingt"
(CV 3, KSA 1, 772, 8-9), fungiert, sieht WL die verbindliche Sprachgesetzge-
bung als gesellschaftliches Bindeglied und ersten Ausgang aus dem kriegeri-
schen Naturzustand (vgl. NK 876, 18). In GM wird N. dem „,Staat' auf Erden"
(GM II 17, KSA 5, 324, 26), wie ihn besonders Rousseau in seinem contrat social
konzipiert hatte, auf den Leib rücken: „ich denke, jene Schwärmerei ist abge-
than, welche ihn mit einem ,Vertrage' beginnen liess. Wer befehlen kann, wer
von Natur ,Herr' ist, wer gewaltthätig in Werk und Gebärde auftritt - was hat
der mit Verträgen zu schaffen!" (GM II 17, KSA 5, 324, 27-30) Die „Eroberer-
und Herren-Rasse" (GM II 17, KSA 5, 324, 22) bedürfe vergemeinschaftender
Friedensschlüsse nicht mehr und bewähre sich gerade im bellum omnium con-
tra omnes.
877, 25-28 Jetzt wird nämlich das fixirt, was von nun an „Wahrheit" sein soll
d. h. es wird eine gleichmässig gültige und verbindliche Bezeichnung der Dinge
erfunden] Schon in dem frühen Fragment Ueber die Teleologie erklärt N., unter
Verweis auf Demokrit, die Sprachgenese aus einer aus der Bequemlichkeit des
Menschen stammenden Konvention. Diese ist Resultat einer unbewussten Kon-
vergenz gleicher Bedürfnisse und Nöte: „Ist es wahr, daß Demokrit die
Entstehung der Sprache aus Convenienz behauptet habe?" (KGW I/
4, 62[21], 556) Den konventionellen Ursprung der Sprache behauptet Demokrit
gegen Pythagoras' Auffassung, die Namen seien von Natur aus, vgl. Diels/
Kranz 1996, Fr. 68-B26 (vgl. NK 878, 14-16 zum Kratylos). Vgl. auch Aristoteles
(De interpretatione, 16a 19): „övopa pev ovv eoTi (pwvf ioppavTiKfi KaTa
ouvOfiKqv" (,„Name‘ ist nun also eine übereinstimmungsgemäß etwas bezeich-
nende Lautform", Übersetzung von Zekl 1998, 96-97; vgl. Tomatis 2006, 127).
Zur Beziehung zwischen Konvention und Unbewusstheit vgl. 881, 9-15. Dazu
vgl. Platon, Kratylos, 434e-435c, zur Frage der „ovv0f[Kri" (Übereinstimmung).
Zur Kraft des Vergessens vgl. auch UB II HL 1, KSA 1, 248-257 (vgl. Tomatis
2006, 129).
877, 33-878, 1 Er missbraucht die festen Conventionen durch beliebige Vertau-
schungen oder gar Umkehrungen der Namen.] Die Struktur der Sprache bedingt
für N. die Paradigmen des Bewusstseins und die Modi der Wirklichkeitskons-
truktion. Auf der vereinbarten Entsprechung zwischen Sprache und Wirklich-
keit, die vom Menschen als ,natürlich' und regelmäßig erfahren wird, gründen
die „Gesetze der Wahrheit" (877, 29) und die arterhaltenden Irrtümer (wie Glau-
be an Substanz, Realität der Erscheinungen, an den freien Willen, vgl. FW 110,
KSA 3, 469). Der Lügner nun unterläuft die vermeintlich natürliche Ordnung
der Sprache, sein willkürlicher Umgang mit den Sprachzeichen erscheint als
moralisch bedenklich, als Abweichung von der gesellschaftlichen „Überein-
wie der Staat hier als „eiserne Klammer, die den Gesellschaftsprozeß erzwingt"
(CV 3, KSA 1, 772, 8-9), fungiert, sieht WL die verbindliche Sprachgesetzge-
bung als gesellschaftliches Bindeglied und ersten Ausgang aus dem kriegeri-
schen Naturzustand (vgl. NK 876, 18). In GM wird N. dem „,Staat' auf Erden"
(GM II 17, KSA 5, 324, 26), wie ihn besonders Rousseau in seinem contrat social
konzipiert hatte, auf den Leib rücken: „ich denke, jene Schwärmerei ist abge-
than, welche ihn mit einem ,Vertrage' beginnen liess. Wer befehlen kann, wer
von Natur ,Herr' ist, wer gewaltthätig in Werk und Gebärde auftritt - was hat
der mit Verträgen zu schaffen!" (GM II 17, KSA 5, 324, 27-30) Die „Eroberer-
und Herren-Rasse" (GM II 17, KSA 5, 324, 22) bedürfe vergemeinschaftender
Friedensschlüsse nicht mehr und bewähre sich gerade im bellum omnium con-
tra omnes.
877, 25-28 Jetzt wird nämlich das fixirt, was von nun an „Wahrheit" sein soll
d. h. es wird eine gleichmässig gültige und verbindliche Bezeichnung der Dinge
erfunden] Schon in dem frühen Fragment Ueber die Teleologie erklärt N., unter
Verweis auf Demokrit, die Sprachgenese aus einer aus der Bequemlichkeit des
Menschen stammenden Konvention. Diese ist Resultat einer unbewussten Kon-
vergenz gleicher Bedürfnisse und Nöte: „Ist es wahr, daß Demokrit die
Entstehung der Sprache aus Convenienz behauptet habe?" (KGW I/
4, 62[21], 556) Den konventionellen Ursprung der Sprache behauptet Demokrit
gegen Pythagoras' Auffassung, die Namen seien von Natur aus, vgl. Diels/
Kranz 1996, Fr. 68-B26 (vgl. NK 878, 14-16 zum Kratylos). Vgl. auch Aristoteles
(De interpretatione, 16a 19): „övopa pev ovv eoTi (pwvf ioppavTiKfi KaTa
ouvOfiKqv" (,„Name‘ ist nun also eine übereinstimmungsgemäß etwas bezeich-
nende Lautform", Übersetzung von Zekl 1998, 96-97; vgl. Tomatis 2006, 127).
Zur Beziehung zwischen Konvention und Unbewusstheit vgl. 881, 9-15. Dazu
vgl. Platon, Kratylos, 434e-435c, zur Frage der „ovv0f[Kri" (Übereinstimmung).
Zur Kraft des Vergessens vgl. auch UB II HL 1, KSA 1, 248-257 (vgl. Tomatis
2006, 129).
877, 33-878, 1 Er missbraucht die festen Conventionen durch beliebige Vertau-
schungen oder gar Umkehrungen der Namen.] Die Struktur der Sprache bedingt
für N. die Paradigmen des Bewusstseins und die Modi der Wirklichkeitskons-
truktion. Auf der vereinbarten Entsprechung zwischen Sprache und Wirklich-
keit, die vom Menschen als ,natürlich' und regelmäßig erfahren wird, gründen
die „Gesetze der Wahrheit" (877, 29) und die arterhaltenden Irrtümer (wie Glau-
be an Substanz, Realität der Erscheinungen, an den freien Willen, vgl. FW 110,
KSA 3, 469). Der Lügner nun unterläuft die vermeintlich natürliche Ordnung
der Sprache, sein willkürlicher Umgang mit den Sprachzeichen erscheint als
moralisch bedenklich, als Abweichung von der gesellschaftlichen „Überein-