56 Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne
„Raphael ohne Hände ist gar nicht zu denken, denn hätte er nie wirklich ge-
malt, so hätte auch sein inneres Malen sich nicht entwickeln, er hätte nicht
malerisch erfinden können, und hätte er nicht meisterhaft gemalt, so hätte er
nicht malerisch genial erfinden können". Damit polemisiert Vischer gegen die
jnternalistische' Position Schleiermachers, die er in der Position des Malers
Conti wiederzuerkennen glaubt (vgl. Vischer 1851, Bd. 3, 12-13). Für N. gibt es
keine Kontinuität zwischen einem ästhetischen Bewusstsein und dem künstle-
rischen Ausdruck: Das „ästhetische[s] Verhalten" (884, 12) drückt den
Kontakt zwischen Bewusstseinsinhalten und künstlerischer Praxis aus.
884, 23-28 wenn aber eben dasselbe Bild Millionen Mal hervorgebracht und
durch viele Menschengeschlechter hindurch vererbt ist, ja zuletzt bei der ge-
sammten Menschheit jedesmal in Folge desselben Anlasses erscheint, so be-
kommt es endlich für den Menschen dieselbe Bedeutung, als ob es das einzig
nothwendige Bild sei] Die Worte durchlaufen einen Selektionsprozess, für sie
gilt wie für die Individuen einer Art Darwins Prämisse vom survival of the fit-
test, vgl.: „Auch bei dem Bilderdenken hat der Darwinismus Recht: das kräfti-
gere Bild verzehrt die geringeren" (NL 1872/73, KSA 7, 19[87], 448, 19-20). Von
einer „natürlichen Auswahl" von Begriffen geht schon Max Müller (1863, Bd. 1,
290-291) aus.
885, 6-7 nach der Höhe der teleskopischen und nach der Tiefe der mikroskopi-
schen Welt] Der Mensch nimmt kühne Übertragungen vor, die Spielfeld seines
Metaphorisierungstriebes sind, weshalb er auch von Objekten, die außerhalb
seines sinnlichen Fassungsvermögens liegen, doch bildliche Vorstellungen
hat, über die er zu verfügen vermeint und die er als Welt an sich interpretiert.
N. wechselt von der teleskopischen hin zur mikroskopischen Perspektive dabei
nicht ohne Ironie. Schon in der Eingangsfabel hatte er die „Augen des Welt-
alls" (876, 1) effektvoll mit dem Pathos von Mensch und Mücke kontrastiert
(vgl. NK 875, 16-18), und auch in dieser Passage wird das Verhältnis der
Wissenschaft zur Welt mit demjenigen von Vogel, Wurm und Pflanze (885, 15)
korreliert. Die „Gesetzmässigkeit", die „im Sternenlauf und im chemischen
Process" (886, 4-5) scheinbar erkannt wird, ist den Begriffen schon einge-
schrieben, die vermeintliche Erkenntnis ist tautologisch. Diese grundsätzliche
Unkenntnis der beiden Unendlichkeiten im Großen und im Kleinen wies schon
für Pascal gerade auf ein Missverhältnis des Menschen hin (vgl. dazu NK 875,
2-11). In seiner Pascal-Ausgabe unterstreicht und markiert sich N. im Fragment
über die „Zwei Unendlichkeiten" (Pascal 1865, Bd. 2, 62-63) folgende Frage
nach dem mittleren Standpunkt der Betrachtung zwischen „zu großer Ferne
oder [...] zu großer Nähe" (Pascal 1865, Bd. 2, 63): „Die Perspektive bezeichnet
ihn [den rechten Ort] in der Kunst der Malerei; aber wer soll ihn für die Wahr-
heit und Moral bezeichnen?" (Pascal 1865, Bd. 2, 63)
„Raphael ohne Hände ist gar nicht zu denken, denn hätte er nie wirklich ge-
malt, so hätte auch sein inneres Malen sich nicht entwickeln, er hätte nicht
malerisch erfinden können, und hätte er nicht meisterhaft gemalt, so hätte er
nicht malerisch genial erfinden können". Damit polemisiert Vischer gegen die
jnternalistische' Position Schleiermachers, die er in der Position des Malers
Conti wiederzuerkennen glaubt (vgl. Vischer 1851, Bd. 3, 12-13). Für N. gibt es
keine Kontinuität zwischen einem ästhetischen Bewusstsein und dem künstle-
rischen Ausdruck: Das „ästhetische[s] Verhalten" (884, 12) drückt den
Kontakt zwischen Bewusstseinsinhalten und künstlerischer Praxis aus.
884, 23-28 wenn aber eben dasselbe Bild Millionen Mal hervorgebracht und
durch viele Menschengeschlechter hindurch vererbt ist, ja zuletzt bei der ge-
sammten Menschheit jedesmal in Folge desselben Anlasses erscheint, so be-
kommt es endlich für den Menschen dieselbe Bedeutung, als ob es das einzig
nothwendige Bild sei] Die Worte durchlaufen einen Selektionsprozess, für sie
gilt wie für die Individuen einer Art Darwins Prämisse vom survival of the fit-
test, vgl.: „Auch bei dem Bilderdenken hat der Darwinismus Recht: das kräfti-
gere Bild verzehrt die geringeren" (NL 1872/73, KSA 7, 19[87], 448, 19-20). Von
einer „natürlichen Auswahl" von Begriffen geht schon Max Müller (1863, Bd. 1,
290-291) aus.
885, 6-7 nach der Höhe der teleskopischen und nach der Tiefe der mikroskopi-
schen Welt] Der Mensch nimmt kühne Übertragungen vor, die Spielfeld seines
Metaphorisierungstriebes sind, weshalb er auch von Objekten, die außerhalb
seines sinnlichen Fassungsvermögens liegen, doch bildliche Vorstellungen
hat, über die er zu verfügen vermeint und die er als Welt an sich interpretiert.
N. wechselt von der teleskopischen hin zur mikroskopischen Perspektive dabei
nicht ohne Ironie. Schon in der Eingangsfabel hatte er die „Augen des Welt-
alls" (876, 1) effektvoll mit dem Pathos von Mensch und Mücke kontrastiert
(vgl. NK 875, 16-18), und auch in dieser Passage wird das Verhältnis der
Wissenschaft zur Welt mit demjenigen von Vogel, Wurm und Pflanze (885, 15)
korreliert. Die „Gesetzmässigkeit", die „im Sternenlauf und im chemischen
Process" (886, 4-5) scheinbar erkannt wird, ist den Begriffen schon einge-
schrieben, die vermeintliche Erkenntnis ist tautologisch. Diese grundsätzliche
Unkenntnis der beiden Unendlichkeiten im Großen und im Kleinen wies schon
für Pascal gerade auf ein Missverhältnis des Menschen hin (vgl. dazu NK 875,
2-11). In seiner Pascal-Ausgabe unterstreicht und markiert sich N. im Fragment
über die „Zwei Unendlichkeiten" (Pascal 1865, Bd. 2, 62-63) folgende Frage
nach dem mittleren Standpunkt der Betrachtung zwischen „zu großer Ferne
oder [...] zu großer Nähe" (Pascal 1865, Bd. 2, 63): „Die Perspektive bezeichnet
ihn [den rechten Ort] in der Kunst der Malerei; aber wer soll ihn für die Wahr-
heit und Moral bezeichnen?" (Pascal 1865, Bd. 2, 63)