Stellenkommentar WL 1, KSA 1, S. 884-885 57
Das kontrastive Bild Mikroskop-Teleskop findet sich bei vielen von den na-
turwissenschaftlichen Neuerungen beeinflussten Autoren zu N.s Zeit. Auch
Lichtenberg, den N. zeitnah zu WL studierte, konnte N. motivische Anregungen
geben. In den Vermischten Schriften markiert N. die Passage: „Ob ich den Keim
in der Eichel mit dem Mikroskop, oder den hundertjährigen Baum mit bloßen
Augen ansehe, so bin ich gleich weit vom Anfange. Das Mikroskop dient nur
uns noch mehr zu verwirren. So weit wir mit unsern Fernröhren reichen kön-
nen, sehen wir Sonnen, um die sich wahrscheinlich Planeten drehen. [...] Es
könnte ein Wesen geben, dem das uns sichtbare Weltgebäude wie ein glühen-
der Sandhaufen vorkäme" (Lichtenberg 1867, Bd. 1, 51). Vgl. schon Schopen-
hauer: „In dieser Eigenschaft ist unser Intellekt einem Teleskop mit einem sehr
engen Gesichtsfelde zu vergleichen; weil eben unser Bewußtseyn kein stehen-
des, sondern ein fließendes ist" (WWV, Bd. 2, B. 1, Kap. 15, 150).
885, 17-19 so würde niemand von einer solchen Gesetzmässigkeit der Natur
reden, sondern sie nur als ein höchst subjectives Gebilde begreifen] N.s Rede von
der Gesetzmäßigkeit in der Natur bezieht sich auf einen Diskurs, der sich so-
wohl in seinen eigenen Schriften schon lange vor WL entwickelt als auch die
Lektüre anderer Autoren, zur Hauptsache die Lektüre von Kant, zur Vorausset-
zung hat. Über N.s Überlegungen gibt insbesondere das Teleologie-Fragment
von April/Mai 1868 Auskunft. Zugrunde liegt diesem Fragment Kants Kritilc der
Urteilskraft (vor allem der zweite Teil). N. ist es zur Hauptsache nicht um die
subjektive, sondern um die objektive Teleologie zu tun, die für ihn rein anthro-
pomorph ist. Ja schon die Kategorien Raum und Zeit, die Kant für die Prinzipi-
en der Gesetzmäßigkeit voraussetzt, sind für N. „ein höchst subjectives Gebil-
de" (885, 19). Es gibt für ihn folglich auch keine gesetzmäßig eingerichtete
Natur, sondern nur den menschlichen Intellekt, der seine Begriffe auf die Natur
überträgt und in weiteren Übertragungen, das sind aber Metaphern, auf Ideen
und eine höhere Vernunft schließt. Der „Ausdruck ,Gesetzmässigkeit"' (MA II,
KSA 2, 384, 13-14) ist für N. damit nichts anderes als ein ästhetisches Produkt,
„ein letzter Zufluchtswinkel der mythologischen Träumerei" (KSA 2, 384, 14-
15), der allerdings die Tendenz zur Selbstentlarvung schon in sich trägt. Denn
zwar regulieren die Konzepte der Wissenschaft den Weltbezug des Menschen
solange widerspruchsfrei, wie sie der ihnen unterstellten Gesetzmäßigkeit ana-
log funktionieren. Die naturwissenschaftlichen Begriffe (ähnliche Kritik übt
zeitgleich Emil Du Bois-Reymond in seinem Vortrag Über die Grenzen des Na-
turerkennens, 1872) stoßen jedoch dort an ihre Grenzen, wo zur schlüssigen
Behauptung der Naturgesetze metaphysische Parameter vorausgesetzt werden
müssten. Gerade durch das Motiv des äußeren Zwecks der Natur wird, wie es
im Teleologie-Fragment mit Blick auf Kant heißt, die behauptete „strenge
Nothwendigkeit von Ursache und Folge [...] fortwährend unterbrochen" (KGW
Das kontrastive Bild Mikroskop-Teleskop findet sich bei vielen von den na-
turwissenschaftlichen Neuerungen beeinflussten Autoren zu N.s Zeit. Auch
Lichtenberg, den N. zeitnah zu WL studierte, konnte N. motivische Anregungen
geben. In den Vermischten Schriften markiert N. die Passage: „Ob ich den Keim
in der Eichel mit dem Mikroskop, oder den hundertjährigen Baum mit bloßen
Augen ansehe, so bin ich gleich weit vom Anfange. Das Mikroskop dient nur
uns noch mehr zu verwirren. So weit wir mit unsern Fernröhren reichen kön-
nen, sehen wir Sonnen, um die sich wahrscheinlich Planeten drehen. [...] Es
könnte ein Wesen geben, dem das uns sichtbare Weltgebäude wie ein glühen-
der Sandhaufen vorkäme" (Lichtenberg 1867, Bd. 1, 51). Vgl. schon Schopen-
hauer: „In dieser Eigenschaft ist unser Intellekt einem Teleskop mit einem sehr
engen Gesichtsfelde zu vergleichen; weil eben unser Bewußtseyn kein stehen-
des, sondern ein fließendes ist" (WWV, Bd. 2, B. 1, Kap. 15, 150).
885, 17-19 so würde niemand von einer solchen Gesetzmässigkeit der Natur
reden, sondern sie nur als ein höchst subjectives Gebilde begreifen] N.s Rede von
der Gesetzmäßigkeit in der Natur bezieht sich auf einen Diskurs, der sich so-
wohl in seinen eigenen Schriften schon lange vor WL entwickelt als auch die
Lektüre anderer Autoren, zur Hauptsache die Lektüre von Kant, zur Vorausset-
zung hat. Über N.s Überlegungen gibt insbesondere das Teleologie-Fragment
von April/Mai 1868 Auskunft. Zugrunde liegt diesem Fragment Kants Kritilc der
Urteilskraft (vor allem der zweite Teil). N. ist es zur Hauptsache nicht um die
subjektive, sondern um die objektive Teleologie zu tun, die für ihn rein anthro-
pomorph ist. Ja schon die Kategorien Raum und Zeit, die Kant für die Prinzipi-
en der Gesetzmäßigkeit voraussetzt, sind für N. „ein höchst subjectives Gebil-
de" (885, 19). Es gibt für ihn folglich auch keine gesetzmäßig eingerichtete
Natur, sondern nur den menschlichen Intellekt, der seine Begriffe auf die Natur
überträgt und in weiteren Übertragungen, das sind aber Metaphern, auf Ideen
und eine höhere Vernunft schließt. Der „Ausdruck ,Gesetzmässigkeit"' (MA II,
KSA 2, 384, 13-14) ist für N. damit nichts anderes als ein ästhetisches Produkt,
„ein letzter Zufluchtswinkel der mythologischen Träumerei" (KSA 2, 384, 14-
15), der allerdings die Tendenz zur Selbstentlarvung schon in sich trägt. Denn
zwar regulieren die Konzepte der Wissenschaft den Weltbezug des Menschen
solange widerspruchsfrei, wie sie der ihnen unterstellten Gesetzmäßigkeit ana-
log funktionieren. Die naturwissenschaftlichen Begriffe (ähnliche Kritik übt
zeitgleich Emil Du Bois-Reymond in seinem Vortrag Über die Grenzen des Na-
turerkennens, 1872) stoßen jedoch dort an ihre Grenzen, wo zur schlüssigen
Behauptung der Naturgesetze metaphysische Parameter vorausgesetzt werden
müssten. Gerade durch das Motiv des äußeren Zwecks der Natur wird, wie es
im Teleologie-Fragment mit Blick auf Kant heißt, die behauptete „strenge
Nothwendigkeit von Ursache und Folge [...] fortwährend unterbrochen" (KGW