60 Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne
dass er eben so glücklich wäre, als ein König welcher alle Nächte während zwölf
Stunden träumte er sei Handwerker".] N. konnte diese Textstelle in einer Fußno-
te seiner Ausgabe von Pascal 1865, Bd. 2, 85-86, finden: „Wenn wir jede Nacht
dasselbe träumten, so würde uns dieses ebenso beschäftigen, als die Dinge,
welche wir jeden Tag sehen; und wenn ein Handwerker gewiß wäre, jede Nacht
zu träumen, während zwölf Stunden, daß er König sei, so glaube ich, daß er
ebenso glücklich wäre als ein König, welcher alle Nächte während zwölf Stun-
den träumte, er sei Handwerker." Das Zitat stammt aus Pascals Pensees, Fr.
386. Nach Pascal gibt es kein inneres Kriterium zur Scheidung von Wach- und
Traumzustand, denn in beiden Zuständen sind Empfindungen derselben Inten-
sität möglich. Das Fragment, dem N. dieses Zitat entnimmt, weist neben dem
Themenkreis Wachen und Schlaf noch weitere Ähnlichkeiten mit WL auf (Pas-
cal 1865, Bd. 2, 84-89). Pascal stellt einer dogmatischen eine skeptische Sicht
auf den Menschen entgegen, der entsprechend mal als „Besitzer der Wahr-
heit", mal als „Behälter [...] des Irrthums" (Pascal 1865, Bd. 2, 87) verstanden
wird und letztlich als widerspruchsvolle „Chimäre" (Pascal 1865, Bd. 2, 87)
erscheint: „wir fühlen ein Bild der Wahrheit, und besitzen nur die Lüge" (Pas-
cal 1865, Bd. 2, 88).
887, 28-32 Wenn jeder Baum einmal als Nymphe reden oder unter der Hülle
eines Stieres ein Gott Jungfrauen wegschleppen kann, wenn die Göttin Athene
selbst plötzlich gesehen wird, wie sie mit einem schönen Gespann in der Beglei-
tung des Pisistratus durch die Märkte Athens fährt] Nymphen sind weibliche
Gottheiten, welche verschiedenste Naturphänomene beseelen, darunter auch
Bäume - als „Dryaden". Der Göttervater Zeus entführte in der Gestalt eines
Stieres die phönikische Königstochter Europa nach Kreta. Peisistratos stürmte
als Nachfolger Solons und Anführer sozial Deklassierter 560 v. Chr. die Akropo-
lis, wurde verbannt und kehrte bald in Begleitung einer als Athene verkleide-
ten Frau in die Stadt zurück, als deren Schutzgöttin nun Athene ausgerufen
wurde.
Der Mythos inszeniert sich als Erzählung von einer „anthropomorphischen
Welt" (886, 23-24), während sich die Wissenschaft Objektivität attestiert. Ba-
sierend auf dem Metaphorisierungstrieb als dem wesentlichen Vermögen des
Menschen verfahren Mythos und Wissenschaft für N. jedoch analog. Notwendi-
gerweise halten beide „den Menschen als Maass an alle Dinge" (883, 20-21),
jeder ihrer Weltbezüge ist gewissermaßen hypothetischer Vergleich („im Grun-
de nur die Metamorphose der Welt in den Menschen", 883, 11-12) mit gleich-
wohl pragmatischer, lebensdienlicher Ausrichtung: Mythos und Kunst betrach-
ten die Natur, „als ob sie nur die Maskerade der Götter wäre" (888, 1), und
schöpfen daraus Beglückung. Wissenschaft und Philosophie beurteilen die Na-
tur, als ob sie gesetzmäßig und sinnvoll eingerichtet wäre, und verschaffen
dass er eben so glücklich wäre, als ein König welcher alle Nächte während zwölf
Stunden träumte er sei Handwerker".] N. konnte diese Textstelle in einer Fußno-
te seiner Ausgabe von Pascal 1865, Bd. 2, 85-86, finden: „Wenn wir jede Nacht
dasselbe träumten, so würde uns dieses ebenso beschäftigen, als die Dinge,
welche wir jeden Tag sehen; und wenn ein Handwerker gewiß wäre, jede Nacht
zu träumen, während zwölf Stunden, daß er König sei, so glaube ich, daß er
ebenso glücklich wäre als ein König, welcher alle Nächte während zwölf Stun-
den träumte, er sei Handwerker." Das Zitat stammt aus Pascals Pensees, Fr.
386. Nach Pascal gibt es kein inneres Kriterium zur Scheidung von Wach- und
Traumzustand, denn in beiden Zuständen sind Empfindungen derselben Inten-
sität möglich. Das Fragment, dem N. dieses Zitat entnimmt, weist neben dem
Themenkreis Wachen und Schlaf noch weitere Ähnlichkeiten mit WL auf (Pas-
cal 1865, Bd. 2, 84-89). Pascal stellt einer dogmatischen eine skeptische Sicht
auf den Menschen entgegen, der entsprechend mal als „Besitzer der Wahr-
heit", mal als „Behälter [...] des Irrthums" (Pascal 1865, Bd. 2, 87) verstanden
wird und letztlich als widerspruchsvolle „Chimäre" (Pascal 1865, Bd. 2, 87)
erscheint: „wir fühlen ein Bild der Wahrheit, und besitzen nur die Lüge" (Pas-
cal 1865, Bd. 2, 88).
887, 28-32 Wenn jeder Baum einmal als Nymphe reden oder unter der Hülle
eines Stieres ein Gott Jungfrauen wegschleppen kann, wenn die Göttin Athene
selbst plötzlich gesehen wird, wie sie mit einem schönen Gespann in der Beglei-
tung des Pisistratus durch die Märkte Athens fährt] Nymphen sind weibliche
Gottheiten, welche verschiedenste Naturphänomene beseelen, darunter auch
Bäume - als „Dryaden". Der Göttervater Zeus entführte in der Gestalt eines
Stieres die phönikische Königstochter Europa nach Kreta. Peisistratos stürmte
als Nachfolger Solons und Anführer sozial Deklassierter 560 v. Chr. die Akropo-
lis, wurde verbannt und kehrte bald in Begleitung einer als Athene verkleide-
ten Frau in die Stadt zurück, als deren Schutzgöttin nun Athene ausgerufen
wurde.
Der Mythos inszeniert sich als Erzählung von einer „anthropomorphischen
Welt" (886, 23-24), während sich die Wissenschaft Objektivität attestiert. Ba-
sierend auf dem Metaphorisierungstrieb als dem wesentlichen Vermögen des
Menschen verfahren Mythos und Wissenschaft für N. jedoch analog. Notwendi-
gerweise halten beide „den Menschen als Maass an alle Dinge" (883, 20-21),
jeder ihrer Weltbezüge ist gewissermaßen hypothetischer Vergleich („im Grun-
de nur die Metamorphose der Welt in den Menschen", 883, 11-12) mit gleich-
wohl pragmatischer, lebensdienlicher Ausrichtung: Mythos und Kunst betrach-
ten die Natur, „als ob sie nur die Maskerade der Götter wäre" (888, 1), und
schöpfen daraus Beglückung. Wissenschaft und Philosophie beurteilen die Na-
tur, als ob sie gesetzmäßig und sinnvoll eingerichtet wäre, und verschaffen