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Scheibenberger, Sarah; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,3): Kommentar zu Nietzsches "Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69927#0084
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weg: und wehe der verhängnissvollen Neubegier, die durch eine
Spalte einmal aus dem Bewusstseinszimmer heraus und hinab zu
sehen vermöchte und die jetzt ahnte, dass auf dem Erbarmungs-
losen, dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Mörderischen der
Mensch ruht, in der Gleichgültigkeit seines Nichtwissens, und
gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend. Wo-
her, in aller Welt, bei dieser Constellation der Trieb zur Wahrheit!
Soweit das Individuum sich gegenüber andern Individuen er-
halten will, benutzte es in einem natürlichen Zustande der Dinge
den Intellekt zumeist nur zur Verstellung: weil aber der Mensch
zugleich aus Noth und Langeweile gesellschaftlich und heerden-
weise existiren will, braucht er einen Friedensschluss und trachtet
darnach dass wenigstens das allergröbste bellum omnium contra
omnes aus seiner Welt verschwinde. Dieser Friedensschluss bringt
aber etwas mit sich, was wie der erste Schritt zur Erlangung jenes
räthselhaften Wahrheitstriebes aussieht. Jetzt wird nämlich das
fixirt, was von nun an „Wahrheit" sein soll d. h. es wird eine
gleichmässig gültige und verbindliche Bezeichnung der Dinge er-
funden und die Gesetzgebung der Sprache giebt auch die ersten
Gesetze der Wahrheit: denn es entsteht hier zum ersten Male der
Contrast von Wahrheit und Lüge: der Lügner gebraucht die gül-
tigen Bezeichnungen, die Worte, um das Unwirkliche als wirklich
erscheinen zu machen; er sagt z. B. ich bin reich, während für
diesen Zustand gerade „arm" die richtige Bezeichnung wäre. Er
missbraucht die festen Conventionen durch beliebige Vertau-
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schungen oder gar Umkehrungen der Namen. Wenn er dies in
eigennütziger und übrigens Schaden bringender Weise thut, so
wird ihm die Gesellschaft nicht mehr trauen und ihn dadurch
von sich ausschliessen. Die Menschen fliehen dabei das Betrogen-
werden nicht so sehr, als das Beschädigtwerden durch Betrug. Sie
hassen auch auf dieser Stufe im Grunde nicht die Täuschung,
sondern die schlimmen, feindseligen Folgen gewisser Gattungen
von Täuschungen. In einem ähnlichen beschränkten Sinne will der
Mensch auch nur die Wahrheit. Er begehrt die angenehmen, Leben
erhaltenden Folgen der Wahrheit; gegen die reine folgenlose
Erkenntniss ist er gleichgültig, gegen die vielleicht schädlichen und
zerstörenden Wahrheiten sogar feindlich gestimmt. Und überdies:
wie steht es mit jenen Conventionen der Sprache? Sind sie viel-
 
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