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Scheibenberger, Sarah; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,3): Kommentar zu Nietzsches "Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69927#0085
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68 Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne

leicht Erzeugnisse der Erkenntniss, des Wahrheitssinnes: decken
sich die Bezeichnungen und die Dinge? Ist die Sprache der adä- 15
quate Ausdruck aller Realitäten?
Nur durch Vergesslichkeit kann der Mensch je dazu kommen
zu wähnen: er besitze eine Wahrheit in dem eben bezeichneten
Grade. Wenn er sich nicht mit der Wahrheit in der Form der
Tautologie d.h. mit leeren Hülsen begnügen will, so wird er ewig 20
Illusionen für Wahrheiten einhandeln. Was ist ein Wort? Die
Abbildung eines Nervenreizes in Lauten. Von dem Nervenreiz
aber weiterzuschliessen auf eine Ursache äusser uns, ist bereits das
Resultat einer falschen und unberechtigten Anwendung des Sat-
zes vom Grunde. Wie dürften wir, wenn die Wahrheit bei der 25
Genesis der Sprache, der Gesichtspunkt der Gewissheit bei den
Bezeichnungen allein entscheidend gewesen wäre, wie dürften
wir doch sagen: der Stein ist hart: als ob uns „hart" noch sonst
bekannt wäre und nicht nur als eine ganz subjektive Reizung!
Wir theilen die Dinge nach Geschlechtern ein, wir bezeichnen den 30
Baum als männlich, die Pflanze als weiblich: welche willkürlichen
Übertragungen! Wie weit hinausgeflogen über den Canon der
Gewissheit! Wir reden von einer Schlange: die Bezeichnung trifft
nichts als das Sichwinden, könnte also auch dem Wurme zukom-
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men. Welche willkürlichen Abgrenzungen, welche einseitigen Be-
vorzugungen bald der bald jener Eigenschaft eines Dinges! Die
verschiedenen Sprachen neben einander gestellt zeigen, dass es bei
den Worten nie auf die Wahrheit, nie auf einen adäquaten Aus-
druck ankommt: denn sonst gäbe es nicht so viele Sprachen. Das 5
„Ding an sich" (das würde eben die reine folgenlose Wahrheit
sein) ist auch dem Sprachbildner ganz unfasslich und ganz und
gar nicht erstrebenswerth. Er bezeichnet nur die Relationen der
Dinge zu den Menschen und nimmt zu deren Ausdrucke die kühn-
sten Metaphern zu Hülfe. Ein Nervenreiz zuerst übertragen in 10
ein Bild! erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einen
Laut! Zweite Metapher. Und jedesmal vollständiges Uebersprin-
gen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue. Man
kann sich einen Menschen denken, der ganz taub ist und nie eine
Empfindung des Tones und der Musik gehabt hat: wie dieser etwa 15
die Chladnischen Klangfiguren im Sande anstaunt, ihre Ursachen
im Erzittern der Saite findet und nun darauf schwören wird, jetzt
 
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