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Scheibenberger, Sarah; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,3): Kommentar zu Nietzsches "Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69927#0086
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müsse er wissen, was die Menschen den Ton nennen, so geht es uns
allen mit der Sprache. Wir glauben etwas von den Dingen selbst
zu wissen, wenn wir von Bäumen, Farben, Schnee und Blumen
reden und besitzen doch nichts als Metaphern der Dinge, die den
ursprünglichen Wesenheiten ganz und gar nicht entsprechen. Wie
der Ton als Sandfigur, so nimmt sich das räthselhafte X des Dings
an sich einmal als Nervenreiz, dann als Bild, endlich als Laut aus.
Logisch geht es also jedenfalls nicht bei der Entstehung der
Sprache zu, und das ganze Material worin und womit später der
Mensch der Wahrheit, der Forscher, der Philosoph arbeitet und
baut, stammt, wenn nicht aus Wolkenkukuksheim, so doch jeden-
falls nicht aus dem Wesen der Dinge.
Denken wir besonders noch an die Bildung der Begriffe: jedes
Wort wird sofort dadurch Begriff, dass es eben nicht für das ein-
malige ganz und gar individualisirte Urerlebniss, dem es sein
Entstehen verdankt, etwa als Erinnerung dienen soll, sondern
zugleich für zahllose, mehr oder weniger ähnliche, d. h. streng ge-
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nommen niemals gleiche, also auf lauter ungleiche Fälle passen
muss. Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nicht-Gleichen.
So gewiss nie ein Blatt einem anderen ganz gleich ist, so gewiss ist
der Begriff Blatt durch beliebiges Fallenlassen dieser individuellen
Verschiedenheiten, durch ein Vergessen des Unterscheidenden ge-
bildet und erweckt nun die Vorstellung, als ob es in der Natur
äusser den Blättern etwas gäbe, das „Blatt" wäre, etwa eine Ur-
form, nach der alle Blätter gewebt, gezeichnet, abgezirkelt, ge-
färbt, gekräuselt, bemalt wären, aber von ungeschickten Händen,
so dass kein Exemplar correkt und zuverlässig als treues Abbild
der Urform ausgefallen wäre. Wir nennen einen Menschen ehr-
lich; warum hat er heute so ehrlich gehandelt? fragen wir. Unsere
Antwort pflegt zu lauten: seiner Ehrlichkeit wegen. Die Ehrlich-
keit! das heisst wieder: das Blatt ist die Ursache der Blätter. Wir
wissen ja gar nichts von einer wesenhaften Qualität, die die Ehr-
lichkeit hiesse, wohl aber von zahlreichen individualisirten, somit
ungleichen Handlungen, die wir durch Weglassen des Ungleichen
gleichsetzen und jetzt als ehrliche Handlungen bezeichnen; zuletzt
formuliren wir aus ihnen eine qualitas occulta mit dem Namen:
die Ehrlichkeit.
Das Uebersehen des Individuellen und Wirklichen giebt uns
den Begriff, wie es uns auch die Form giebt, wohingegen die Natur
 
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