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Scheibenberger, Sarah; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,3): Kommentar zu Nietzsches "Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69927#0088
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was den Menschen gegen das Thier abhebt, hängt von dieser
Fähigkeit ab, die anschaulichen Metaphern zu einem Schema zu
verflüchtigen, also ein Bild in einen Begriff aufzulösen; im Bereich
jener Schemata nämlich ist etwas möglich, was niemals unter den
anschaulichen ersten Eindrücken gelingen möchte: eine pyrami-
dale Ordnung nach Kasten und Graden aufzubauen, eine neue
Welt von Gesetzen, Privilegien, Unterordnungen, Gränzbestim-
mungen zu schaffen, die nun der anderen anschaulichen Welt der
ersten Eindrücke gegenübertritt, als das Festere, Allgemeinere,
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Bekanntere, Menschlichere und daher als das Regulirende und
Imperativische. Während jede Anschauungsmetapher individuell
und ohne ihres Gleichen ist und deshalb allem Rubriciren immer
zu entfliehen weiss, zeigt der grosse Bau der Begriffe die starre
Regelmässigkeit eines römischen Columbariums und athmet in
der Logik jene Strenge und Kühle aus, die der Mathematik zu
eigen ist. Wer von dieser Kühle angehaucht wird, wird es kaum
glauben, dass auch der Begriff, knöchern und 8eckig wie ein
Würfel und versetzbar wie jener, doch nur als das Residuum
einer Metapher übrig bleibt, und dass die Illusion der
künstlerischen Uebertragung eines Nervenreizes in Bilder, wenn
nicht die Mutter so doch die Grossmutter eines jeden Begriffs ist.
Innerhalb dieses Würfelspiels der Begriffe heisst aber „Wahr-
heit" - jeden Würfel so zu gebrauchen, wie er bezeichnet ist; ge-
nau seine Augen zu zählen, richtige Rubriken zu bilden und nie
gegen die Kastenordnung und gegen die Reihenfolge der Rang-
klassen zu verstossen. Wie die Römer und Etrusker sich den Him-
mel durch starre mathematische Linien zerschnitten und in einen
solchermaassen abgegrenzten Raum als in ein templum einen Gott
bannten, so hat jedes Volk über sich einen solchen mathematisch
zertheilten Begriffshimmel und versteht nun unter der Forderung
der Wahrheit, dass jeder Begriffsgott nur in seiner Sphäre
gesucht werde. Man darf hier den Menschen wohl bewundern als
ein gewaltiges Baugenie, dem auf beweglichen Fundamenten und
gleichsam auf fliessendem Wasser das Aufthürmen eines unend-
lich complicirten Begriffsdomes gelingt; freilich, um auf solchen
Fundamenten Halt zu finden, muss es ein Bau, wie aus Spinne-
fäden sein, so zart, um von der Welle mit fortgetragen, so fest, um
nicht von dem Winde auseinander geblasen zu werden. Als Bau-
 
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