Überblickskommentar, Kapitel III.3: Selbstaussagen Nietzsches 17
sind, ja wie selten sich überhaupt auch nur die Dankbarkeit äussern kann. Es
ist als ob ihr immer, wenn sie einmal reden will, Etwas in die Kehle komme,
sodass sie sich nur räuspert und im Räuspern wieder verstummt" (KSA 3, 457,
23-27). Über die Beweggründe dafür reflektiert N., indem er hypothetisch die
folgende psychologische Motivation in Betracht zieht: „mitunter hat es das An-
sehen, als ob Die, auf welche gewirkt worden ist, sich im Grunde dadurch be-
leidigt fühlten und ihre, wie sie fürchten, bedrohte Selbständigkeit nur in aller-
lei Unarten zu äussern wüssten" (KSA 3, 457, 30 - 458, 1). - Im Hinblick auf
die nachhaltige Prägung durch Schopenhauer scheint eine analoge Disposition
auch bei N. selbst vorzuliegen. So steigert er die kritische Distanz zu seinem
früheren Lehrer schließlich sogar bis zu scharfer Polemik. In einem Kapitel
der Götzen-Dämmerung, das den Titel „Streifzüge eines Unzeitgemässen" trägt,
unterstellt N. Schopenhauer „die grösste psychologische Falschmünzerei",
weil er die „Exuberanz-Formen des Lebens" wie Kunst, Heroismus, Schönheit,
Erkenntnis, Wahrheitsstreben und Tragödie auf eine ,Verneinung des Willens'
zurückgeführt habe (KSA 6, 125, 9-15). Zu diesem thematischen Komplex vgl.
KSA 6, 125-128, 135-136.
Aber nicht erst in seiner spätesten Schaffensphase distanziert sich N. von
Schopenhauer. Bereits am 19. Dezember 1876, kaum mehr als zwei Jahre nach
der Publikation von UB III SE, schreibt er in einem Brief an Cosima Wagner:
„werden Sie sich wundern, wenn ich Ihnen eine allmählich entstandene, mir
fast plötzlich in's Bewußtsein getretene Differenz mit Schopenhauer's Lehre
eingestehe? Ich stehe fast in allen allgemeinen Sätzen nicht auf seiner Seite;
schon als ich über Sch. schrieb, merkte ich, daß ich über alles Dogmatische
daran hinweg sei; mir lag alles am Menschen" (KSB 5, Nr. 581, S. 210). Ähn-
lich äußert sich N. auch Anfang August 1877 in einem Brief an Paul Deussen:
„Schon als ich meine kleine Schrift über Sch<openhauer> schrieb, hielt ich von
allen dogmatischen Puncten fast nichts mehr fest; glaube aber jetzt noch wie
damals, dass es einstweilen höchst wesentlich ist, durch Schopenhauer hin-
durch zu gehen und ihn als Erzieher zu benutzen. Nur glaube ich nicht
mehr, dass er zur Schopenhauerschen Philosophie erziehen soll" (KSB 5,
Nr. 642, S. 265).
Die Grundtendenz dieser Reflexion, die der Persönlichkeit Schopenhauers
gegenüber den Inhalten seiner Philosophie den Vorrang einräumt, setzt sich
auch in einem Nachlass-Notat von 1880/81 fort: „Als ich Schopenhauer gleich
meinem Erzieher feierte hatte ich vergessen, daß bereits seit langem keines
seiner Dogmen meinem Mißtrauen Stand gehalten hatte; es kümmerte mich
aber nicht, wie oft ich ,schlecht bewiesen' oder ,unbeweisbar' oder ,übertrie-
ben' unter seine Sätze geschrieben hatte, weil ich des mächtigen Eindrucks
dankbar genoß, den Schopenhauer selber, frei und kühn vor die Dinge, gegen
sind, ja wie selten sich überhaupt auch nur die Dankbarkeit äussern kann. Es
ist als ob ihr immer, wenn sie einmal reden will, Etwas in die Kehle komme,
sodass sie sich nur räuspert und im Räuspern wieder verstummt" (KSA 3, 457,
23-27). Über die Beweggründe dafür reflektiert N., indem er hypothetisch die
folgende psychologische Motivation in Betracht zieht: „mitunter hat es das An-
sehen, als ob Die, auf welche gewirkt worden ist, sich im Grunde dadurch be-
leidigt fühlten und ihre, wie sie fürchten, bedrohte Selbständigkeit nur in aller-
lei Unarten zu äussern wüssten" (KSA 3, 457, 30 - 458, 1). - Im Hinblick auf
die nachhaltige Prägung durch Schopenhauer scheint eine analoge Disposition
auch bei N. selbst vorzuliegen. So steigert er die kritische Distanz zu seinem
früheren Lehrer schließlich sogar bis zu scharfer Polemik. In einem Kapitel
der Götzen-Dämmerung, das den Titel „Streifzüge eines Unzeitgemässen" trägt,
unterstellt N. Schopenhauer „die grösste psychologische Falschmünzerei",
weil er die „Exuberanz-Formen des Lebens" wie Kunst, Heroismus, Schönheit,
Erkenntnis, Wahrheitsstreben und Tragödie auf eine ,Verneinung des Willens'
zurückgeführt habe (KSA 6, 125, 9-15). Zu diesem thematischen Komplex vgl.
KSA 6, 125-128, 135-136.
Aber nicht erst in seiner spätesten Schaffensphase distanziert sich N. von
Schopenhauer. Bereits am 19. Dezember 1876, kaum mehr als zwei Jahre nach
der Publikation von UB III SE, schreibt er in einem Brief an Cosima Wagner:
„werden Sie sich wundern, wenn ich Ihnen eine allmählich entstandene, mir
fast plötzlich in's Bewußtsein getretene Differenz mit Schopenhauer's Lehre
eingestehe? Ich stehe fast in allen allgemeinen Sätzen nicht auf seiner Seite;
schon als ich über Sch. schrieb, merkte ich, daß ich über alles Dogmatische
daran hinweg sei; mir lag alles am Menschen" (KSB 5, Nr. 581, S. 210). Ähn-
lich äußert sich N. auch Anfang August 1877 in einem Brief an Paul Deussen:
„Schon als ich meine kleine Schrift über Sch<openhauer> schrieb, hielt ich von
allen dogmatischen Puncten fast nichts mehr fest; glaube aber jetzt noch wie
damals, dass es einstweilen höchst wesentlich ist, durch Schopenhauer hin-
durch zu gehen und ihn als Erzieher zu benutzen. Nur glaube ich nicht
mehr, dass er zur Schopenhauerschen Philosophie erziehen soll" (KSB 5,
Nr. 642, S. 265).
Die Grundtendenz dieser Reflexion, die der Persönlichkeit Schopenhauers
gegenüber den Inhalten seiner Philosophie den Vorrang einräumt, setzt sich
auch in einem Nachlass-Notat von 1880/81 fort: „Als ich Schopenhauer gleich
meinem Erzieher feierte hatte ich vergessen, daß bereits seit langem keines
seiner Dogmen meinem Mißtrauen Stand gehalten hatte; es kümmerte mich
aber nicht, wie oft ich ,schlecht bewiesen' oder ,unbeweisbar' oder ,übertrie-
ben' unter seine Sätze geschrieben hatte, weil ich des mächtigen Eindrucks
dankbar genoß, den Schopenhauer selber, frei und kühn vor die Dinge, gegen