Metadaten

Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0045
Lizenz: In Copyright
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
18 Schopenhauer als Erzieher

die Dinge hingestellt, auf mich seit einem Jahrzehnd geübt hatte. Als ich später
Richard Wagner meine Verehrung [...] darbrachte, hatte ich wiederum verges-
sen, daß seine ganze Musik für mich auf einige hundert Takte [...] zusammen-
geschrumpft war, welche mir am Herzen lagen [...] - und nicht weniger hatte
ich vergessen über dem Bilde dieses Lebens - dieses mächtigen, in eigenem
Strome und gleichsam den Berg hinanströmenden Lebens - zu sagen, was ich
von Richard Wagner in Ansehung der Wahrheit hielt. Wer möchte nicht gern
anderer Meinung als Schopenhauer sein, habe ich immer gedacht - im Ganzen
und Großen: und wer könnte Einer M<einung> mit Richard Wagner sein, im
Ganzen und im Kleinen!" (NL 1880/81, 10 [B31], KSA 9, 418-419). - N.s Wert-
schätzung für die Person Schopenhauers zeigt auch ein kleines Gedicht in
Nachlass-Notaten von 1884 (NL 1884, 28 [11], KSA 11, 303), das auch Thomas
Mann in seinem Essay Schopenhauer zitiert (Bd. IX, 535, 563):
„Arthur Schopenhauer.
Was er lehrte ist abgethan,
Was er lebte, wird bleiben stahn:
Seht ihn nur an!
Niemandem war er unterthan!"
In einem Nachlass-Notat von 1878 wendet N. die Reflexionen über den „Scho-
penhauerischen Menschen" (371, 20), die er in UB III SE im Rahmen seiner Un-
terscheidung zwischen drei anthropologischen Modellen formuliert hat (vgl.
369, 1-5), dann sogar gegen die Philosophie seines einstigen Lehrers: „Der
Schopenhauersche Mensch trieb mich zur Skepsis gegen alles Verehrte
Hochgehaltene, bisher Vertheidigte (auch gegen Griechen Schopenhauer Wag-
ner) Genie Heilige - Pessimismus der Erkenntniss" (NL 1878, 27 [80], KSA 8,
500). Auch der Ideal-Typus des „Schopenhauerischen Menschen" evozierte
Zweifel in ihm, die zunächst zu wachsender Distanz und dann zu einem neuen
Selbstgefühl führten: „Bei diesem Umweg kam ich auf die Höhe, mit den
frischesten Winden" (ebd.). Und wenige Seiten zuvor eröffnete N. einen skiz-
zenhaften Rückblick auf die eigene intellektuelle Entwicklung mit der markan-
ten Feststellung: „Das grösste Pathos erreichte ich, als ich den Schopenhaueri-
schen Menschen entwarf: den zerstörenden Genius, gegen alles Werdende"
(NL 1878, 27 [34], KSA 8, 493).
Anders akzentuiert ist ein nachgelassenes Notat aus der Entstehungszeit
von UB III SE, in dem N. im Frühjahr oder Sommer 1874 bekennt: „Ich bin fern
davon zu glauben, dass ich Schopenhauer richtig verstanden habe, sondern
nur mich selber habe ich durch Schopenhauer ein weniges besser verstehen
gelernt; das ist es, weshalb ich ihm die grösste Dankbarkeit schuldig bin. Aber
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften