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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0059
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32 Schopenhauer als Erzieher

4.
Kulturkritisch akzentuiert N. seine Eloge auf Schopenhauer, indem er sie im
4. Kapitel (363-375) mit der Frage verbindet, „wie wir Alle durch Schopenhauer
uns gegen unsre Zeit erziehen können" (363). Den durch die „Gründung des
neuen deutschen Reiches" (364) verstärkten Zukunftsoptimismus, den unkriti-
sche Journalisten propagieren, verurteilt N. ebenso wie die Ideologie, die den
Staat zum „höchste[n] Ziel der Menschheit" erhebt (365). Die Überzeugung,
durch politische Veränderungen seien tieferreichende Probleme zu lösen, lehnt
er kategorisch ab. Ähnlich wie Jacob Burckhardt vertritt er einen Primat der
,Kultur' vor der Politik.
Im Gegensatz zur optimistischen Beurteilung der Gegenwart durch zeitge-
nössische Philosophieprofessoren diagnostiziert N. in der Kultur seiner Epo-
che markante Decadence-Symptome (366). Die allgemeine Beschleunigung
führe zum Verlust kontemplativer Ruhe sowie zur Schwächung, Desorientie-
rung und Verunsicherung der Menschen. Diese Zeitproblematik werde durch
nationale Konflikte, die Auflösung tradierter Gewissheiten, die „militärischen
Gewaltherrscher" (368) und den Machtzuwachs im ökonomischen Sektor noch
verschärft. Die Periode „des atomistischen Chaos" (367) fördere Defätismus,
Angst, Gier und radikalen Egoismus bei der hemmungslosen „Jagd nach
Glück" (367). Aus diesen Fixierungen ergebe sich eine Degeneration der Zeit-
genossen bis zum Animalischen oder „starr Mechanische[n]" (368). Von der
drohenden Barbarei sieht N. auch Kunst und Wissenschaft betroffen (366).
Selbst die Gelehrten vermögen ihren Zeitgenossen laut N. keine Stabilität und
Orientierung mehr zu vermitteln. Für bildungsfeindlich und insofern für kon-
traproduktiv hält er die verbreitete Tendenz, „die allgemeine Krankheit" ein-
fach zu ignorieren, sie durch künstliche Fröhlichkeit zu überspielen oder sie
sogar zu verdrängen und „weg[zu]lügen" (366).
Den konkreten Bezug zu Schopenhauer stellt N. in diesem Zusammenhang
durch einen Vergleich zwischen drei anthropologischen Konzepten her, die für
ihn im Menschenbild Rousseaus, Goethes und Schopenhauers paradigmati-
sche Gestalt gewinnen. Vom revolutionären Potential und von der populären
Wirkkraft Rousseaus, der im Glauben an die „heilige Natur" die zivilisatorische
Depravation kritisiert und sich von Kunst und Wissenschaft distanziert (369),
unterscheide sich Goethe durch den Entwurf eines kontemplativen Menschen-
typus. Obwohl N. in Goethes Faust-Drama auch rousseauistische Tendenzen
feststellt (370), fungiert für ihn das Menschenbild Goethes letztlich als Korrek-
tiv des Rousseauismus (369). Die kontemplative, bewahrende und handlungs-
arme Existenz nach dem Goetheschen Konzept biete allerdings nur für wenige
Menschen ein exklusives Lebensmodell; zugleich sei eine solche Existenzweise
mit dem Risiko verbunden, ins Philiströse zu geraten (371).
 
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