116 Schopenhauer als Erzieher
such einer Selbstkritik", den er 1886 der Neuausgabe der Geburt der Tragödie
voranstellte, sein Konzept des Tragischen sogar in expliziter Abgrenzung von
Schopenhauer: „Wie dachte doch Schopenhauer über die Tragödie? ,Was allem
Tragischen den eigenthümlichen Schwung zur Erhebung giebt - sagt er [...] -
ist das Aufgehen der Erkenntniss, dass die Welt, das Leben kein rechtes Genü-
gen geben könne, mithin unsrer Anhänglichkeit nicht werth sei: darin be-
steht der tragische Geist -, er leitet demnach zur Resignation hin'. Oh wie
anders redete Dionysos zu mir! Oh wie ferne war mir damals gerade dieser
ganze Resignationismus!" (KSA 1, 19, 28 - 20, 4). Zum Konzept des Tragischen
bei Schopenhauer und N. vgl. Neymeyr 2011.
358, 1-4 wie er aus dem Gefühl seiner Sündhaftigkeit sich hin nach dem Heiligen
sehnt, so trägt er, als intellectuelles Wesen, ein tiefes Verlangen nach dem Genius
in sich.] Hier schließt N. an Konzepte an, die Schopenhauer im Dritten und
Vierten Buch der Welt als Wille und Vorstellung I entfaltet: „Bei weiter gebilde-
tem Christenthum sehn wir nun jenen asketischen Keim sich zur vollen Blüthe
entfalten, in den Schriften der Christlichen Heiligen und Mystiker. Diese predi-
gen neben der reinsten Liebe auch völlige Resignation, freiwillige gänzliche
Armuth, wahre Gelassenheit, vollkommene Gleichgültigkeit gegen alle weltli-
chen Dinge, Absterben dem eigenen Willen und Wiedergeburt in Gott, gänzli-
ches Vergessen der eigenen Person und Versenken in die Anschauung Gottes"
(WWV I, § 68, Hü 457). - Den „Vorzug des Genius vor den Andern" erblickt
Schopenhauer darin, dass ihn der „Genuß alles Schönen, der Trost, den die
Kunst gewährt, der Enthusiasmus des Künstlers [...] die Mühen des Lebens ver-
gessen läßt" und so „das mit der Klarheit des Bewußtseyns in gleichem Maße
gesteigerte Leiden" zu kompensieren vermag (WWV I, § 52, Hü 315). Dem Geni-
us sei die „reine, wahre und tiefe Erkenntniß des Wesens der Welt [...] Zweck
an sich [...]." Daher fungiere sie für ihn - anders als „bei dem zur Resignation
gelangten Heiligen" - nicht als „Quietiv des Willens, erlöst ihn nicht auf im-
mer, sondern nur auf Augenblicke vom Leben, und ist ihm so noch nicht der
Weg aus demselben, sondern nur einstweilen ein Trost in demselben; bis seine
dadurch gesteigerte Kraft, endlich des Spieles müde, den Ernst ergreift"
(WWV I, § 52, Hü 316). Jean Amery sieht in N.s Vorstellung des ,Genius' in
UB III SE bereits „den Übermenschen [...] präsent" (Jean Amery [1975] 2004,
397) und setzt voraus, dass N. sich selbst meint, „wenn er vom Genius redet"
(ebd., 398), mithin letztlich „vom Übermenschen Nietzsche" spricht (ebd., 399).
Im vorliegenden Textzusammenhang erklärt N.: „Jeder Mensch pflegt in
sich eine Begrenztheit vorzufinden, seiner Begabung sowohl als seines sittli-
chen Wollens" (357, 33-34), die „ihn mit Sehnsucht und Melancholie erfüllt"
und „ein tiefes Verlangen nach dem Genius in sich" auslöst (358, 1-4). Diese
Aussagen instrumentalisiert Holm, um sie autobiographisch als implizites
such einer Selbstkritik", den er 1886 der Neuausgabe der Geburt der Tragödie
voranstellte, sein Konzept des Tragischen sogar in expliziter Abgrenzung von
Schopenhauer: „Wie dachte doch Schopenhauer über die Tragödie? ,Was allem
Tragischen den eigenthümlichen Schwung zur Erhebung giebt - sagt er [...] -
ist das Aufgehen der Erkenntniss, dass die Welt, das Leben kein rechtes Genü-
gen geben könne, mithin unsrer Anhänglichkeit nicht werth sei: darin be-
steht der tragische Geist -, er leitet demnach zur Resignation hin'. Oh wie
anders redete Dionysos zu mir! Oh wie ferne war mir damals gerade dieser
ganze Resignationismus!" (KSA 1, 19, 28 - 20, 4). Zum Konzept des Tragischen
bei Schopenhauer und N. vgl. Neymeyr 2011.
358, 1-4 wie er aus dem Gefühl seiner Sündhaftigkeit sich hin nach dem Heiligen
sehnt, so trägt er, als intellectuelles Wesen, ein tiefes Verlangen nach dem Genius
in sich.] Hier schließt N. an Konzepte an, die Schopenhauer im Dritten und
Vierten Buch der Welt als Wille und Vorstellung I entfaltet: „Bei weiter gebilde-
tem Christenthum sehn wir nun jenen asketischen Keim sich zur vollen Blüthe
entfalten, in den Schriften der Christlichen Heiligen und Mystiker. Diese predi-
gen neben der reinsten Liebe auch völlige Resignation, freiwillige gänzliche
Armuth, wahre Gelassenheit, vollkommene Gleichgültigkeit gegen alle weltli-
chen Dinge, Absterben dem eigenen Willen und Wiedergeburt in Gott, gänzli-
ches Vergessen der eigenen Person und Versenken in die Anschauung Gottes"
(WWV I, § 68, Hü 457). - Den „Vorzug des Genius vor den Andern" erblickt
Schopenhauer darin, dass ihn der „Genuß alles Schönen, der Trost, den die
Kunst gewährt, der Enthusiasmus des Künstlers [...] die Mühen des Lebens ver-
gessen läßt" und so „das mit der Klarheit des Bewußtseyns in gleichem Maße
gesteigerte Leiden" zu kompensieren vermag (WWV I, § 52, Hü 315). Dem Geni-
us sei die „reine, wahre und tiefe Erkenntniß des Wesens der Welt [...] Zweck
an sich [...]." Daher fungiere sie für ihn - anders als „bei dem zur Resignation
gelangten Heiligen" - nicht als „Quietiv des Willens, erlöst ihn nicht auf im-
mer, sondern nur auf Augenblicke vom Leben, und ist ihm so noch nicht der
Weg aus demselben, sondern nur einstweilen ein Trost in demselben; bis seine
dadurch gesteigerte Kraft, endlich des Spieles müde, den Ernst ergreift"
(WWV I, § 52, Hü 316). Jean Amery sieht in N.s Vorstellung des ,Genius' in
UB III SE bereits „den Übermenschen [...] präsent" (Jean Amery [1975] 2004,
397) und setzt voraus, dass N. sich selbst meint, „wenn er vom Genius redet"
(ebd., 398), mithin letztlich „vom Übermenschen Nietzsche" spricht (ebd., 399).
Im vorliegenden Textzusammenhang erklärt N.: „Jeder Mensch pflegt in
sich eine Begrenztheit vorzufinden, seiner Begabung sowohl als seines sittli-
chen Wollens" (357, 33-34), die „ihn mit Sehnsucht und Melancholie erfüllt"
und „ein tiefes Verlangen nach dem Genius in sich" auslöst (358, 1-4). Diese
Aussagen instrumentalisiert Holm, um sie autobiographisch als implizites