128 Schopenhauer als Erzieher
Verdammniß gilt, geben nicht ihre todten Begriffe den Ausschlag, sondern das
innerste Wesen des Menschen selbst" (WWV I, § 53, Hü 319). Dass an dieser
Stelle auch der von N. zuvor bereits genannte Empedokles (361, 22-29) relevant
ist, zeigt das Ende des 3. Kapitels (363, 21).
363, 9-11 Er wusste es wohl, dass noch Höheres und Reineres auf dieser Erde
zu finden und zu erreichen sei als solch ein zeitgemässes Leben] Im Rahmen von
N.s Kulturkritik impliziert diese Aussage einen positiven Begriff des Unzeitge-
mäßen. Mit dem Motiv der Reinheit nimmt N. die Grundvorstellung aus den
Katharmoi (Reinigungen) des Empedokles wieder auf, dessen Namen er am
Ende des 3. Kapitels emphatisch nennt (363, 21).
363, 15 vielleicht das Leben überhaupt rechtfertigen] In N.s Erstlingsschrift Die
Geburt der Tragödie hat dieser Gedanke zentrale Bedeutung. In dem 1886 vo-
rangestellten „Versuch einer Selbstkritik" nimmt N. auf die in der Geburt der
Tragödie „mehrfach" wiederkehrende These Bezug, „dass nur als ästhetisches
Phänomen das Dasein der Welt gerechtfertigt ist" (KSA 1, 17, 11-12). Und
später erklärt er hier prononciert: „nur als aesthetisches Phänomen ist
das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt" (KSA 1, 47, 26-27). In der
Fröhlichen Wissenschaft schließt N. später tendenziell an Aspekte seiner frühen
Kunstmetaphysik an, indem er die Kunst als „Cultus des Unwahren [...], als
den guten Willen zum Scheine" beschreibt (KSA 3, 464, 11-19) und erklärt:
„Als ästhetisches Phänomen ist uns das Dasein immer noch erträglich, und
durch die Kunst ist uns Auge und Hand und vor Allem das gute Gewissen dazu
gegeben, aus uns selber ein solches Phänomen machen zu können" (KSA 3,
464, 25-27). Denn „wir brauchen alle übermüthige, schwebende, tanzende,
spottende, kindische und selige Kunst, um jener Freiheit über den Din-
gen nicht verlustig zu gehen, welche unser Ideal von uns fordert" (KSA 3, 465,
5-8). Zur Entwicklung N.s von der ästhetischen Metaphysik seiner Geburt der
Tragödie zur späteren Physiologie der Kunst vgl. Volker Gerhardt 1984, 374-
393.
363, 21 Die Antwort des Empedokles.] Mit dieser kryptischen Andeutung greift
N. auf die frühere Erwähnung des griechischen Philosophen zurück (361, 22-
29). Aufgrund der bereits in NK 361, 23 charakterisierten Reinigungsthematik,
die N. wohl aus den Katharmoi (Reinigungen) des Empedokles übernimmt, um
sie dann selbst als notwendige Reinigung von allem ,Zeitgemäßen' zu aktuali-
sieren, würde die „Antwort des Empedokles" nach N. vermutlich lauten: Nur
das Leben, das von allem Zeitgemäßen gereinigt und befreit ist, kann bejaht
werden. Indem N. hier bewusst kryptisch verfährt, folgt er dem esoterischen
Verfahren der Pythagoreer, in deren Tradition auch Empedokles stand. In
UB IV WB zitiert N. in einem auf Wagner und Bayreuth bezogenen Kontext das
Verdammniß gilt, geben nicht ihre todten Begriffe den Ausschlag, sondern das
innerste Wesen des Menschen selbst" (WWV I, § 53, Hü 319). Dass an dieser
Stelle auch der von N. zuvor bereits genannte Empedokles (361, 22-29) relevant
ist, zeigt das Ende des 3. Kapitels (363, 21).
363, 9-11 Er wusste es wohl, dass noch Höheres und Reineres auf dieser Erde
zu finden und zu erreichen sei als solch ein zeitgemässes Leben] Im Rahmen von
N.s Kulturkritik impliziert diese Aussage einen positiven Begriff des Unzeitge-
mäßen. Mit dem Motiv der Reinheit nimmt N. die Grundvorstellung aus den
Katharmoi (Reinigungen) des Empedokles wieder auf, dessen Namen er am
Ende des 3. Kapitels emphatisch nennt (363, 21).
363, 15 vielleicht das Leben überhaupt rechtfertigen] In N.s Erstlingsschrift Die
Geburt der Tragödie hat dieser Gedanke zentrale Bedeutung. In dem 1886 vo-
rangestellten „Versuch einer Selbstkritik" nimmt N. auf die in der Geburt der
Tragödie „mehrfach" wiederkehrende These Bezug, „dass nur als ästhetisches
Phänomen das Dasein der Welt gerechtfertigt ist" (KSA 1, 17, 11-12). Und
später erklärt er hier prononciert: „nur als aesthetisches Phänomen ist
das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt" (KSA 1, 47, 26-27). In der
Fröhlichen Wissenschaft schließt N. später tendenziell an Aspekte seiner frühen
Kunstmetaphysik an, indem er die Kunst als „Cultus des Unwahren [...], als
den guten Willen zum Scheine" beschreibt (KSA 3, 464, 11-19) und erklärt:
„Als ästhetisches Phänomen ist uns das Dasein immer noch erträglich, und
durch die Kunst ist uns Auge und Hand und vor Allem das gute Gewissen dazu
gegeben, aus uns selber ein solches Phänomen machen zu können" (KSA 3,
464, 25-27). Denn „wir brauchen alle übermüthige, schwebende, tanzende,
spottende, kindische und selige Kunst, um jener Freiheit über den Din-
gen nicht verlustig zu gehen, welche unser Ideal von uns fordert" (KSA 3, 465,
5-8). Zur Entwicklung N.s von der ästhetischen Metaphysik seiner Geburt der
Tragödie zur späteren Physiologie der Kunst vgl. Volker Gerhardt 1984, 374-
393.
363, 21 Die Antwort des Empedokles.] Mit dieser kryptischen Andeutung greift
N. auf die frühere Erwähnung des griechischen Philosophen zurück (361, 22-
29). Aufgrund der bereits in NK 361, 23 charakterisierten Reinigungsthematik,
die N. wohl aus den Katharmoi (Reinigungen) des Empedokles übernimmt, um
sie dann selbst als notwendige Reinigung von allem ,Zeitgemäßen' zu aktuali-
sieren, würde die „Antwort des Empedokles" nach N. vermutlich lauten: Nur
das Leben, das von allem Zeitgemäßen gereinigt und befreit ist, kann bejaht
werden. Indem N. hier bewusst kryptisch verfährt, folgt er dem esoterischen
Verfahren der Pythagoreer, in deren Tradition auch Empedokles stand. In
UB IV WB zitiert N. in einem auf Wagner und Bayreuth bezogenen Kontext das