Überblickskommentar, Kapitel IV.3: Ambivalentes Verhältnis zu Wagner 309
Ist die letztere wahr, so darf das Allgemeine ganz und gar nicht abhängig vom Bei-
spiel sein, d. h. die absolute Musik ist im Recht, auch die Musik des Drama's muss abso-
lute Musik sein".
Von den musikästhetischen Prämissen Schopenhauers ausgehend, präferiert
N. hier die späteren Publikationen Wagners gegenüber den Züricher Reform-
schriften. In der Geburt der Tragödie beruft sich N. wörtlich auf Die Welt als
Wille und Vorstellung I (KSA 1, 103, 32 - 104, 6), und zwar auf Schopenhauers
These, die Musik als „eine im höchsten Grad allgemeine Sprache" (WWV I,
§ 52, Hü 309) sei „darin von allen andern Künsten verschieden, daß sie nicht
Abbild der Erscheinung [...], sondern unmittelbar Abbild des Willens selbst ist
und also zu allem Physischen der Welt das Metaphysische, zu aller Erschei-
nung das Ding an sich darstellt" (WWV I, § 52, Hü 310).
Auch in seiner Streitschrift Zur Genealogie der Moral von 1887 geht N. auf
die Wagnersche ,Konversion' ein, mithin auf sein ,Übertreten' vom „Glauben"
an eine instrumentelle Funktion der Musik für das Drama zu „seinem späteren
ästhetischen Glauben" an die Musikphilosophie Schopenhauers: Entstanden
sei dadurch „ein vollkommner theoretischer Widerspruch" bei Wagner (KSA 5,
345, 23-27). Die skeptische Distanz N.s wird durch die kritische Weiterführung
seiner Perspektive auf Wagners ,Konversion' evident: „Er begriff mit Einem
Male, dass mit der Schopenhauer'schen Theorie und Neuerung mehr zu
machen sei in majorem musicae gloriam, - nämlich mit der Souverainetät
der Musik, so wie sie Schopenhauer begriff: die Musik abseits gestellt gegen
alle übrigen Künste, die unabhängige Kunst an sich [...], die Sprache des Wil-
lens selbst redend [...], als dessen eigenste, ursprünglichste, unabgeleitetste
Offenbarung. Mit dieser ausserordentlichen Werthsteigerung der Musik, wie sie
aus der Schopenhauer'schen Philosophie zu erwachsen schien, stieg mit Einem
Male auch der Musiker selbst unerhört im Preise: er wurde nunmehr ein
Orakel, ein Priester, ja [...] eine Art Mundstück des ,An-sich' der Dinge, ein
Telephon des Jenseits, - er redete fürderhin nicht nur Musik, dieser Bauchred-
ner Gottes, - er redete Metaphysik" (KSA 5, 346, 1-16). Ironisch karikiert N. hier
Wagners Tendenz, den Status der Musik unter Rückgriff auf Schopenhauers
Ästhetik für eigene Zwecke zu instrumentalisieren, um aus einer quasi-meta-
physischen Dignität der Musik für sich selbst eine numinose Aura als Kompo-
nist abzuleiten.
Zuvor problematisiert N. 1882 bereits in der Fröhlichen Wissenschaft die
Prägung Wagners durch Schopenhauer, wenn er im Text 99 unter dem Titel
„Die Anhänger Schopenhauer's" konstatiert: „Richard Wagner [...] ver-
kannte die unausgesprochene Philosophie seiner eigensten Kunst", irregeführt
zunächst „durch Hegel", dann dadurch, dass er „Schopenhauer's Lehre aus
seinen Gestalten herauslas und mit ,Wille', Genie' und ,Mitleid' sich selber zu
Ist die letztere wahr, so darf das Allgemeine ganz und gar nicht abhängig vom Bei-
spiel sein, d. h. die absolute Musik ist im Recht, auch die Musik des Drama's muss abso-
lute Musik sein".
Von den musikästhetischen Prämissen Schopenhauers ausgehend, präferiert
N. hier die späteren Publikationen Wagners gegenüber den Züricher Reform-
schriften. In der Geburt der Tragödie beruft sich N. wörtlich auf Die Welt als
Wille und Vorstellung I (KSA 1, 103, 32 - 104, 6), und zwar auf Schopenhauers
These, die Musik als „eine im höchsten Grad allgemeine Sprache" (WWV I,
§ 52, Hü 309) sei „darin von allen andern Künsten verschieden, daß sie nicht
Abbild der Erscheinung [...], sondern unmittelbar Abbild des Willens selbst ist
und also zu allem Physischen der Welt das Metaphysische, zu aller Erschei-
nung das Ding an sich darstellt" (WWV I, § 52, Hü 310).
Auch in seiner Streitschrift Zur Genealogie der Moral von 1887 geht N. auf
die Wagnersche ,Konversion' ein, mithin auf sein ,Übertreten' vom „Glauben"
an eine instrumentelle Funktion der Musik für das Drama zu „seinem späteren
ästhetischen Glauben" an die Musikphilosophie Schopenhauers: Entstanden
sei dadurch „ein vollkommner theoretischer Widerspruch" bei Wagner (KSA 5,
345, 23-27). Die skeptische Distanz N.s wird durch die kritische Weiterführung
seiner Perspektive auf Wagners ,Konversion' evident: „Er begriff mit Einem
Male, dass mit der Schopenhauer'schen Theorie und Neuerung mehr zu
machen sei in majorem musicae gloriam, - nämlich mit der Souverainetät
der Musik, so wie sie Schopenhauer begriff: die Musik abseits gestellt gegen
alle übrigen Künste, die unabhängige Kunst an sich [...], die Sprache des Wil-
lens selbst redend [...], als dessen eigenste, ursprünglichste, unabgeleitetste
Offenbarung. Mit dieser ausserordentlichen Werthsteigerung der Musik, wie sie
aus der Schopenhauer'schen Philosophie zu erwachsen schien, stieg mit Einem
Male auch der Musiker selbst unerhört im Preise: er wurde nunmehr ein
Orakel, ein Priester, ja [...] eine Art Mundstück des ,An-sich' der Dinge, ein
Telephon des Jenseits, - er redete fürderhin nicht nur Musik, dieser Bauchred-
ner Gottes, - er redete Metaphysik" (KSA 5, 346, 1-16). Ironisch karikiert N. hier
Wagners Tendenz, den Status der Musik unter Rückgriff auf Schopenhauers
Ästhetik für eigene Zwecke zu instrumentalisieren, um aus einer quasi-meta-
physischen Dignität der Musik für sich selbst eine numinose Aura als Kompo-
nist abzuleiten.
Zuvor problematisiert N. 1882 bereits in der Fröhlichen Wissenschaft die
Prägung Wagners durch Schopenhauer, wenn er im Text 99 unter dem Titel
„Die Anhänger Schopenhauer's" konstatiert: „Richard Wagner [...] ver-
kannte die unausgesprochene Philosophie seiner eigensten Kunst", irregeführt
zunächst „durch Hegel", dann dadurch, dass er „Schopenhauer's Lehre aus
seinen Gestalten herauslas und mit ,Wille', Genie' und ,Mitleid' sich selber zu