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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0343
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316 Richard Wagner in Bayreuth

empfinde ich ganz frei. Dieser ganze Vorgang mußte so kommen, er ist wohl-
thätig und ich verwende meine Emancipation von ihm reichlich zu geistiger
Förderung" (KSB 5, Nr. 772, S. 364). Demgemäß ist auch die Vorrede zu Mensch-
liches, Allzumenschliches zu verstehen, in der N. emphatisch von „einer gros-
sen Loslösung" (KSA 2, 15, 29-30) und vom „Willen zur Selbstbestimmung,
Selbst-Werthsetzung" spricht (KSA 2, 16, 34 - 17, 1). Dennoch erhofft er sich
von Wagner die Größe, die Abkehr von seiner geistigen Welt souverän zu re-
spektieren: „Ich will warten, bis Wagner eine Schrift anerkennt, die gegen
ihn gerichtet ist" (NL 1878, 28 [45], KSA 8, 510), notiert N. noch im Frühjahr/
Sommer 1878. - Acht Jahre später stellt N. am 27. Oktober 1886 im Brief an
Franz Overbeck sogar selbst einen Bezug zum Werktitel Menschliches, Allzu-
menschliches her, indem er konstatiert, „daß ich heute noch so gut als ehemals
an das Ideal glaube, an welches Wagner glaubte, - was liegt daran, daß ich
an dem vielen Menschlich-Allzumenschlichen gestolpert bin, das R<ichard>
W<agner> selbst seinem Ideal in den Weg gelegt hat" (KSB 7, Nr. 769, S. 273).
Sehr viel schärfer charakterisierte N. den Dissens allerdings acht Jahre zu-
vor in der akuten Konfliktsituation. Nachdem am 25. April 1878 der erste Teil
von Menschliches, Allzumenschliches in Bayreuth eingetroffen war, mithin
knapp vier Monate, nachdem ihm Wagner den Privatdruck seiner Parsifal-
Dichtung zugeschickt hatte, wurde das Zerwürfnis zwischen N. und Wagner
irreversibel. Diese zeitliche Differenz ignoriert N. übrigens nachträglich, wenn
er in Ecce homo im Rückblick auf die Absendung von Menschliches, Allzu-
menschliches nach Bayreuth erklärt: „Durch ein Wunder von Sinn im Zufall
kam gleichzeitig bei mir ein schönes Exemplar des Parsifal-Textes an, mit Wag-
ners Widmung an mich ,seinem theuren Freunde Friedrich Nietzsche, Richard
Wagner, Kirchenrath'. - Diese Kreuzung der zwei Bücher - mir war's, als ob
ich einen ominösen Ton dabei hörte. Klang es nicht, als ob sich Degen kreuz-
ten?... Jedenfalls empfanden wir es beide so: denn wir schwiegen beide"
(KSA 6, 327, 16-23). Dieselbe unzutreffende Koinzidenz inszeniert N. 1882 auch
in einem Brief an Lou von Salome (KSB 6, Nr. 269, S. 229). Die humoristische
Intention von Wagners selbstironischer Unterschrift „Richard Wagner (Oberkir-
chenrath: zur freundlichen Mittheilung an Professor Overbeck.)" in der besag-
ten Widmung (KGB II 6/2, Nr. 1025, S. 788) hat N. offenbar gründlich missver-
standen, wie auch Thomas Mann meint, wenn er den „absoluten Ernst" N.s
betont (Bd. IX, 395).
Auch die Stilisierung des Parsifal-Textes zum eigentlichen Grund für den
Kontaktabbruch hält einer genaueren Überprüfung nicht stand: De facto war
diese Dichtung N. nämlich bereits seit dem ersten Weihnachtsfest bekannt, das
er 1869 bei Wagner in Tribschen verbrachte; daher konnte sie für ihn keines-
wegs den finalen Schock bedeuten, zu dem er sie nachträglich stilisierte (vgl.
 
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