330 Richard Wagner in Bayreuth
Meisterschaft" (NL 1888, 23 [2], KSA 13, 600). Dann fährt er fort (NL 1888, 23
[2], KSA 13, 600-601):
„Wagner, im Banne jener unglaubwürdig krankhaften Sexualität, die der Fluch seines
Lebens war, wußte nur zu gut, was ein Künstler damit einbüßt, daß er vor sich die Frei-
heit, die Achtung verliert. Er ist verurtheilt, Schauspieler zu sein. Seine Kunst selbst
wird ihm zum beständigen Fluchtversuch, zum Mittel des Sich-Vergessens, des Sich-
Betäubens, - es verändert, es bestimmt zuletzt den Charakter seiner Kunst. Ein solcher
,Unfreier' hat eine Haschisch-Welt nöthig, fremde, schwere, einhüllende Dünste, alle Art
Exotismus und Symbolismus des Ideals, nur um seine Realität einmal loszusein, - er
hat Wagnersche Musik nöthig ... Eine gewisse Katholicität des Ideals vor Allem ist bei
einem Künstler beinahe der Beweis von Selbstverachtung, von ,Sumpf': [...] der Fall Wag-
ner's in Deutschland. - Habe ich noch zu sagen, daß Wagner seiner Sinnlichkeit auch
seinen Erfolg verdankt? daß seine Musik die untersten Instinkte zu sich, zu Wagner
überredet? daß jener heilige Begriffs-Dunst von Ideal, von Drei-Achtel-Katholicismus eine
Kunst der Verführung mehr ist? [...] Die immer mehr um sich greifende Wagnerei ist eine
leichtere Sinnlichkeits-Epidemie, die ,es nicht weiß'; gegen Wagnersche Musik halte ich
jede Vorsicht für geboten. -"
Mit polemischem Nachdruck deutet N. das ,Ideal' als sexualpathologisches
Symptom. In seinem tiefenpsychologischen Deutungsversuch glaubt er auch
die Vision eines ,freien' Menschen ad absurdum führen zu können, indem er
ihren Scheincharakter dekuvriert, und zwar mit der Behauptung, hinter der
Fassade der Freiheit verberge sich genau das Gegenteil: nämlich Unfreiheit.
Allerdings wechseln solche radikalen Entlarvungsstrategien in N.s Briefen
und Nachlass-Notaten mit Dokumenten, die seine Faszination durch Wagner -
trotz aller Vorbehalte gegen ihn - auch später noch erkennen lassen. Die Fixie-
rung auf Richard Wagner wurde für N. zum lebenslänglichen Schicksal - auch
über das Ende der Freundschaft hinaus. In diesem Sinne ist UB IV WB als Zwi-
schenstation auf einem Weg zu verstehen, als Phase in dem langwierigen Pro-
zess der Distanzierung, mit dem N. seine eigene Identität gegen die Faszinati-
onskraft Wagners zu bewahren versuchte.
Die durch fundamentale Ambivalenzen bestimmte Auseinandersetzung
mit ihm vollzieht sich in einem Spannungsfeld zwischen Selbst-Preisgabe und
Abgrenzung. Das zeigt auch die nostalgische Perspektive in einem Brief, den
N. am 14. Januar 1880 an Malwida von Meysenbug schrieb: „Hören sie [sic]
Gutes von Wagner's? Es sind drei Jahre, daß ich nichts von ihnen erfahre: die
haben mich auch verlassen, und ich wußte es längst, daß W<agner> vom Au-
genblicke an, wo er die Kluft unserer Bestrebungen merken würde, auch nicht
mehr zu mir halten werde. Man hat mir erzählt, daß er gegen mich schreibe.
Möge er damit fortfahren: es muß die Wahrheit auf jede Art an's Licht kom-
men! Ich denke in einer dauernden Dankbarkeit an ihn, denn ihm verdanke
ich einige der kräftigsten Anregungen zur geistigen Selbstständigkeit. Frau
Meisterschaft" (NL 1888, 23 [2], KSA 13, 600). Dann fährt er fort (NL 1888, 23
[2], KSA 13, 600-601):
„Wagner, im Banne jener unglaubwürdig krankhaften Sexualität, die der Fluch seines
Lebens war, wußte nur zu gut, was ein Künstler damit einbüßt, daß er vor sich die Frei-
heit, die Achtung verliert. Er ist verurtheilt, Schauspieler zu sein. Seine Kunst selbst
wird ihm zum beständigen Fluchtversuch, zum Mittel des Sich-Vergessens, des Sich-
Betäubens, - es verändert, es bestimmt zuletzt den Charakter seiner Kunst. Ein solcher
,Unfreier' hat eine Haschisch-Welt nöthig, fremde, schwere, einhüllende Dünste, alle Art
Exotismus und Symbolismus des Ideals, nur um seine Realität einmal loszusein, - er
hat Wagnersche Musik nöthig ... Eine gewisse Katholicität des Ideals vor Allem ist bei
einem Künstler beinahe der Beweis von Selbstverachtung, von ,Sumpf': [...] der Fall Wag-
ner's in Deutschland. - Habe ich noch zu sagen, daß Wagner seiner Sinnlichkeit auch
seinen Erfolg verdankt? daß seine Musik die untersten Instinkte zu sich, zu Wagner
überredet? daß jener heilige Begriffs-Dunst von Ideal, von Drei-Achtel-Katholicismus eine
Kunst der Verführung mehr ist? [...] Die immer mehr um sich greifende Wagnerei ist eine
leichtere Sinnlichkeits-Epidemie, die ,es nicht weiß'; gegen Wagnersche Musik halte ich
jede Vorsicht für geboten. -"
Mit polemischem Nachdruck deutet N. das ,Ideal' als sexualpathologisches
Symptom. In seinem tiefenpsychologischen Deutungsversuch glaubt er auch
die Vision eines ,freien' Menschen ad absurdum führen zu können, indem er
ihren Scheincharakter dekuvriert, und zwar mit der Behauptung, hinter der
Fassade der Freiheit verberge sich genau das Gegenteil: nämlich Unfreiheit.
Allerdings wechseln solche radikalen Entlarvungsstrategien in N.s Briefen
und Nachlass-Notaten mit Dokumenten, die seine Faszination durch Wagner -
trotz aller Vorbehalte gegen ihn - auch später noch erkennen lassen. Die Fixie-
rung auf Richard Wagner wurde für N. zum lebenslänglichen Schicksal - auch
über das Ende der Freundschaft hinaus. In diesem Sinne ist UB IV WB als Zwi-
schenstation auf einem Weg zu verstehen, als Phase in dem langwierigen Pro-
zess der Distanzierung, mit dem N. seine eigene Identität gegen die Faszinati-
onskraft Wagners zu bewahren versuchte.
Die durch fundamentale Ambivalenzen bestimmte Auseinandersetzung
mit ihm vollzieht sich in einem Spannungsfeld zwischen Selbst-Preisgabe und
Abgrenzung. Das zeigt auch die nostalgische Perspektive in einem Brief, den
N. am 14. Januar 1880 an Malwida von Meysenbug schrieb: „Hören sie [sic]
Gutes von Wagner's? Es sind drei Jahre, daß ich nichts von ihnen erfahre: die
haben mich auch verlassen, und ich wußte es längst, daß W<agner> vom Au-
genblicke an, wo er die Kluft unserer Bestrebungen merken würde, auch nicht
mehr zu mir halten werde. Man hat mir erzählt, daß er gegen mich schreibe.
Möge er damit fortfahren: es muß die Wahrheit auf jede Art an's Licht kom-
men! Ich denke in einer dauernden Dankbarkeit an ihn, denn ihm verdanke
ich einige der kräftigsten Anregungen zur geistigen Selbstständigkeit. Frau