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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0432
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Stellenkommentar UB IV WB 3, KSA 1, S. 442-443 405

Wagnersche Pathos" zurück, „zu dem er sich seine Kunst bloß hinzuerfunden
hat" (NL 1888, 16 [37], KSA 13, 496). Dann charakterisiert er Wagner als
„schwerfällig", weil ihm „Augenblicke übermüthigster Vollkommenheit" we-
sensfremd sind, und stellt sich die skeptische Frage: „Ob man mit einem sol-
chen Pathos ein ,Genie' ist? Oder auch nur sein kann?" (NL 1888, 16 [37],
KSA 13, 497).
443, 7 „das Fürchten nicht gelernt hat"] N. spielt hier auf den 1. Aufzug in
Wagners Siegfried-Oper an, deren Protagonist naiv und daher furchtlos ist (GSD
VI, 110-111). Siegfried verdankt seine Existenz dem Inzest zwischen Siegmund
und Sieglinde, kennt seine eigene Vorgeschichte allerdings nicht. Als Unwis-
sender hat er auch keine Furcht. Im 1. Akt der Oper formuliert der Wanderer
Wotan die Prognose: „Nur wer das Fürchten nie erfuhr, schmiedet Notung
neu." Tatsächlich vermag erst Siegfried das Schwert Notung, das Wotan selbst
im Handlungsverlauf von Wagners Oper Die Walküre mit seinem Speer in Stü-
cke geschlagen hat, wieder zusammenzuschmieden. Zum Inhalt der Oper Die
Walküre vgl. NK 438, 4.
N.s Aussage über denjenigen, der „das Fürchten nicht gelernt hat", spielt
zugleich auch auf ein Märchen der Brüder Grimm an: auf das Märchen von
einem, der auszog das Fürchten zu lernen aus dem ersten Band der Grimmschen
Kinder- und Hausmärchen (1837). Der Protagonist dieses Märchens verlässt sein
Zuhause, um die Fähigkeit zu erlangen, sich zu gruseln. Da der junge Mann
die gesellschaftlichen Konventionen nicht internalisiert hat, fürchtet er sich
weder vor Toten noch vor der Dunkelheit und ist daher sogar dazu imstande,
es in einem Geisterschloss auszuhalten. Schließlich wird er durch die Hochzeit
mit der Königstochter für seinen Mut belohnt.
Auch Wagners eigener unkonventioneller Umgang mit traditionellen Nor-
men mag N. im vorliegenden Kontext zu dieser doppelten Anspielung veran-
lasst haben, zumal Affinitäten zwischen dem Grimmschen Märchen von 1837
und Wagners Siegfried-Oper evident sind, die fast vierzig Jahre später, am
16. August 1876, in Bayreuth uraufgeführt wurde. Beide Protagonisten lernen
am Ende (wenngleich auf recht unterschiedliche Weise) „das Fürchten" und
erhalten schließlich die ihnen zugedachte Frau. Im dritten Akt von Wagners
Siegfried-Oper erweckt der Titelheld Siegfried Wotans Tochter Brünnhilde, die
aufgrund einer von Wotan verhängten Strafe im dritten Akt der Oper Die Wal-
küre auf dem Walkürenfelsen schlafen muss. Als Siegfried entdeckt, dass es
sich bei ihr nicht um einen Mann handelt, wie er zunächst meinte, sondern
um eine Frau, erbebt er in erotischem Schauer und hat damit das Fürchten
gelernt. Wagners Oper endet dann mit einem leidenschaftlichen Duett von
Siegfried und Brünnhilde.
 
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