432 Richard Wagner in Bayreuth
„ein Hinwenden zur Resignation, zur Verneinung des Willens zum Leben" als
„letzte Absicht des Trauerspiels" bezeichnet (WWV II, Kap. 37, Hü 500), dis-
tanziert sich N. in der Götzen-Dämmerung entschieden von einer solchen „Pes-
simisten-Optik" (KSA 6, 127, 30). Zu den Differenzen zwischen den Konzepten
des Tragischen bei Schopenhauer und N. vgl. Neymeyr 2011, 369-391.
452, 10-15 Wie sollte man es nun bei diesem dreifachen Gefühle des Ungenü-
gens aushalten, wenn man nicht schon in seinem Kämpfen, Streben und Unterge-
hen etwas Erhabenes und Bedeutungsvolles zu erkennen vermöchte und nicht
aus der Tragödie lernte, Lust am Rhythmus der grossen Leidenschaft und am
Opfer derselben zu haben] Hier orientiert sich N. an Konzepten Schopenhauers,
der das Trauerspiel in seiner Ästhetik mit dem Dynamisch-Erhabenen im Sinne
von Kants Kritik der Urteilskraft analogisiert. In der Welt als Wille und Vorstel-
lung II erklärt Schopenhauer: „Unser Gefallen am Trauerspiel gehört nicht
dem Gefühl des Schönen, sondern dem des Erhabenen an; ja, es ist der höchste
Grad dieses Gefühls. Denn, wie wir beim Anblick des Erhabenen in der Natur
uns vom Interesse des Willens abwenden, um uns rein anschauend zu verhal-
ten; so wenden wir bei der tragischen Katastrophe uns vom Willen zum Leben
selbst ab. Im Trauerspiel nämlich wird die schreckliche Seite des Lebens uns
vorgeführt, der Jammer der Menschheit, die Herrschaft des Zufalls und des
Irrthums, der Fall des Gerechten, der Triumph der Bösen: also die unserm Wil-
len geradezu widerstrebende Beschaffenheit der Welt wird uns vor Augen ge-
bracht. Bei diesem Anblick fühlen wir uns aufgefordert, unsern Willen vom
Leben abzuwenden, es nicht mehr zu wollen und zu lieben" (WWV II, Kap. 37,
Hü 495). Und wenig später fährt Schopenhauer fort: „Im Augenblick der tragi-
schen Katastrophe wird uns, deutlicher als jemals, die Ueberzeugung, daß das
Leben ein schwerer Traum sey, aus dem wir zu erwachen haben. Insofern ist
die Wirkung des Trauerspiels analog der des dynamisch Erhabenen, indem es,
wie dieses, uns über den Willen und sein Interesse hinaushebt und uns so
umstimmt, daß wir am Anblick des ihm geradezu Widerstrebenden Gefallen
finden" (ebd.). Zur systematischen Problematik des Trauerspiels in Schopen-
hauers Ästhetik (vor dem Hintergrund seiner Konzeption von Kunst und Erha-
benem) vgl. Neymeyr 1996a, 387-424.
Indem N. in der Geburt der Tragödie von der „metaphysischen" Prämisse
ausgeht, „dass das Wahrhaft-Seiende und Ur-Eine, als das ewig Leidende und
Widerspruchsvolle, zugleich die entzückende Vision, den lustvollen Schein, zu
seiner steten Erlösung braucht" (KSA 1, 38, 29-32), greift er im Hinblick auf die
existentielle Leidensdimension und das Telos der Erlösung auf Schopenhauers
Konzeption des Tragischen zurück. In der Welt als Wille und Vorstellung I attes-
tiert Schopenhauer dem Trauerspiel als literarischer Gattung einen Sondersta-
tus, weil es den „Widerstreit des Willens mit sich selbst" am Leiden des Men-
„ein Hinwenden zur Resignation, zur Verneinung des Willens zum Leben" als
„letzte Absicht des Trauerspiels" bezeichnet (WWV II, Kap. 37, Hü 500), dis-
tanziert sich N. in der Götzen-Dämmerung entschieden von einer solchen „Pes-
simisten-Optik" (KSA 6, 127, 30). Zu den Differenzen zwischen den Konzepten
des Tragischen bei Schopenhauer und N. vgl. Neymeyr 2011, 369-391.
452, 10-15 Wie sollte man es nun bei diesem dreifachen Gefühle des Ungenü-
gens aushalten, wenn man nicht schon in seinem Kämpfen, Streben und Unterge-
hen etwas Erhabenes und Bedeutungsvolles zu erkennen vermöchte und nicht
aus der Tragödie lernte, Lust am Rhythmus der grossen Leidenschaft und am
Opfer derselben zu haben] Hier orientiert sich N. an Konzepten Schopenhauers,
der das Trauerspiel in seiner Ästhetik mit dem Dynamisch-Erhabenen im Sinne
von Kants Kritik der Urteilskraft analogisiert. In der Welt als Wille und Vorstel-
lung II erklärt Schopenhauer: „Unser Gefallen am Trauerspiel gehört nicht
dem Gefühl des Schönen, sondern dem des Erhabenen an; ja, es ist der höchste
Grad dieses Gefühls. Denn, wie wir beim Anblick des Erhabenen in der Natur
uns vom Interesse des Willens abwenden, um uns rein anschauend zu verhal-
ten; so wenden wir bei der tragischen Katastrophe uns vom Willen zum Leben
selbst ab. Im Trauerspiel nämlich wird die schreckliche Seite des Lebens uns
vorgeführt, der Jammer der Menschheit, die Herrschaft des Zufalls und des
Irrthums, der Fall des Gerechten, der Triumph der Bösen: also die unserm Wil-
len geradezu widerstrebende Beschaffenheit der Welt wird uns vor Augen ge-
bracht. Bei diesem Anblick fühlen wir uns aufgefordert, unsern Willen vom
Leben abzuwenden, es nicht mehr zu wollen und zu lieben" (WWV II, Kap. 37,
Hü 495). Und wenig später fährt Schopenhauer fort: „Im Augenblick der tragi-
schen Katastrophe wird uns, deutlicher als jemals, die Ueberzeugung, daß das
Leben ein schwerer Traum sey, aus dem wir zu erwachen haben. Insofern ist
die Wirkung des Trauerspiels analog der des dynamisch Erhabenen, indem es,
wie dieses, uns über den Willen und sein Interesse hinaushebt und uns so
umstimmt, daß wir am Anblick des ihm geradezu Widerstrebenden Gefallen
finden" (ebd.). Zur systematischen Problematik des Trauerspiels in Schopen-
hauers Ästhetik (vor dem Hintergrund seiner Konzeption von Kunst und Erha-
benem) vgl. Neymeyr 1996a, 387-424.
Indem N. in der Geburt der Tragödie von der „metaphysischen" Prämisse
ausgeht, „dass das Wahrhaft-Seiende und Ur-Eine, als das ewig Leidende und
Widerspruchsvolle, zugleich die entzückende Vision, den lustvollen Schein, zu
seiner steten Erlösung braucht" (KSA 1, 38, 29-32), greift er im Hinblick auf die
existentielle Leidensdimension und das Telos der Erlösung auf Schopenhauers
Konzeption des Tragischen zurück. In der Welt als Wille und Vorstellung I attes-
tiert Schopenhauer dem Trauerspiel als literarischer Gattung einen Sondersta-
tus, weil es den „Widerstreit des Willens mit sich selbst" am Leiden des Men-