Stellenkommentar UB IV WB 5, KSA 1, S. 455 443
wie mit Gespensterarmen die Menschen fasst und schiebt, wohin sie eigentlich
nicht wollen; sobald sie mit einander sich zu verständigen und zu einem Werke
zu vereinigen suchen, erfasst sie der Wahnsinn der allgemeinen Begriffe] Durch
einen Prozess, der zu immer stärkerer Konventionalisierung der Sprache führt
und in ihr ein problematisches Übergewicht der Abstraktion entstehen lässt,
geht laut N. die Möglichkeit zu authentischer Mitteilung und Verständigung im
Medium der Sprache verloren. Mit dieser Diagnose schließt N. an Aussagen
Wagners an, der in seiner Schrift Oper und Drama die Bedeutung von ,Mittei-
lung' und Verständigung' betont und ein Defizit für die Kunst darin sieht, dass
„wir das Gefühlsverständniß der Sprache verloren haben" (GSD IV, 210). Vgl.
NK 455, 3-11. - Den ästhetischen Konzepten Wagners gemäß richtet sich auch
N.s Sprachkritik gegen die Depravationen der Sprache durch abstrakte Begriff-
lichkeit. Und analog zu Wagner grenzt er diese Tendenzen der Sprache eben-
falls von einer intuitiven und emotionalen Sprechweise ab. Bereits in seiner
nachgelassenen Frühschrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen
Sinne (1873) thematisiert er die Lebensferne der Begriffe, die aufgrund sprachli-
cher Erstarrungsprozesse den Bezug zur konkreten Anschauung und zu sinnli-
cher Erfahrung verloren haben. Und zuvor beginnt schon die Geburt der Tragö-
die mit einer programmatischen Distanzierung von der Sphäre der Begriffe
(KSA 1, 25, 11). Vgl. auch NK 455, 25-26.
455, 25-26 Hohlheit jener gewaltherrischen Worte und Begriffe] In seiner nach-
gelassenen Frühschrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne
(1873) formuliert N. eine radikale Sprachkritik. Hier beschreibt er den Prozess
der Herausbildung von Konventionen des Sprachgebrauchs. In diesem Sinne
definiert er „Wahrheit" als ein „bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien,
Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die,
poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die
nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken:
die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche
sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind" (KSA 1,
880, 30 - 881, 3). Vgl. auch NK 455, 27-29. Zu N.s Experimental-Metaphorik vgl.
Neymeyr 2014a, 232-254 und 2016b, 323-353.
455, 27-29 das Leiden der Convention [...], das heisst des Uebereinkommens
in Worten und Handlungen ohne ein Uebereinkommen des Gefühls] Im Kontext
dieser Stelle thematisiert N. die Problematik einer Sprache, die er für „er-
krankt" hält (455, 3), weil sie ihre Mitteilungsfunktion eingebüßt hat (vgl. 455,
5-24), und zwar infolge immer stärkerer Vereinnahmung für Tendenzen zur
Abstraktion im „Reich des Gedankens" (455, 9). Besonders eingehend reflek-
tiert N. die Bedeutung von Sprachkonventionen in seiner nachgelassenen
wie mit Gespensterarmen die Menschen fasst und schiebt, wohin sie eigentlich
nicht wollen; sobald sie mit einander sich zu verständigen und zu einem Werke
zu vereinigen suchen, erfasst sie der Wahnsinn der allgemeinen Begriffe] Durch
einen Prozess, der zu immer stärkerer Konventionalisierung der Sprache führt
und in ihr ein problematisches Übergewicht der Abstraktion entstehen lässt,
geht laut N. die Möglichkeit zu authentischer Mitteilung und Verständigung im
Medium der Sprache verloren. Mit dieser Diagnose schließt N. an Aussagen
Wagners an, der in seiner Schrift Oper und Drama die Bedeutung von ,Mittei-
lung' und Verständigung' betont und ein Defizit für die Kunst darin sieht, dass
„wir das Gefühlsverständniß der Sprache verloren haben" (GSD IV, 210). Vgl.
NK 455, 3-11. - Den ästhetischen Konzepten Wagners gemäß richtet sich auch
N.s Sprachkritik gegen die Depravationen der Sprache durch abstrakte Begriff-
lichkeit. Und analog zu Wagner grenzt er diese Tendenzen der Sprache eben-
falls von einer intuitiven und emotionalen Sprechweise ab. Bereits in seiner
nachgelassenen Frühschrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen
Sinne (1873) thematisiert er die Lebensferne der Begriffe, die aufgrund sprachli-
cher Erstarrungsprozesse den Bezug zur konkreten Anschauung und zu sinnli-
cher Erfahrung verloren haben. Und zuvor beginnt schon die Geburt der Tragö-
die mit einer programmatischen Distanzierung von der Sphäre der Begriffe
(KSA 1, 25, 11). Vgl. auch NK 455, 25-26.
455, 25-26 Hohlheit jener gewaltherrischen Worte und Begriffe] In seiner nach-
gelassenen Frühschrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne
(1873) formuliert N. eine radikale Sprachkritik. Hier beschreibt er den Prozess
der Herausbildung von Konventionen des Sprachgebrauchs. In diesem Sinne
definiert er „Wahrheit" als ein „bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien,
Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die,
poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die
nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken:
die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche
sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind" (KSA 1,
880, 30 - 881, 3). Vgl. auch NK 455, 27-29. Zu N.s Experimental-Metaphorik vgl.
Neymeyr 2014a, 232-254 und 2016b, 323-353.
455, 27-29 das Leiden der Convention [...], das heisst des Uebereinkommens
in Worten und Handlungen ohne ein Uebereinkommen des Gefühls] Im Kontext
dieser Stelle thematisiert N. die Problematik einer Sprache, die er für „er-
krankt" hält (455, 3), weil sie ihre Mitteilungsfunktion eingebüßt hat (vgl. 455,
5-24), und zwar infolge immer stärkerer Vereinnahmung für Tendenzen zur
Abstraktion im „Reich des Gedankens" (455, 9). Besonders eingehend reflek-
tiert N. die Bedeutung von Sprachkonventionen in seiner nachgelassenen