454 Richard Wagner in Bayreuth
für die Möglichkeit authentischen Ausdrucks bildet. In Wagners Schrift Oper
und Drama kommt dem „Ausdruck" besondere Bedeutung zu. Auf der Basis
einer Interpretation der „Musik" im Sinne von Innerlichkeit und genuiner Emp-
findung wird der Begriff der Seele hier mit dem der Musik amalgamiert. Andere
ursprünglich religiöse Begriffe, die später säkularisiert wurden, assoziiert N.
hier ebenfalls mit der Vorstellung der „Seele": etwa „Andacht" (459, 34) und
„heilig" (460, 2).
458, 26-27 die bewegende und gestaltende Seele der Musik] Hier greift N. auf
die Aristotelische Vorstellung zurück, die Seele sei die lebendig formende Kraft
des Leibes (De anima, II 2), und überträgt sie auf die Musik.
459, 13-15 Sehen sie in ihrem innerlichen Schauen keine neuen Gestalten vor sich,
sondern immer nur die alten hinter sich, so dienen sie der Historie, aber nicht dem
Leben] In UB II HL konstatiert N. eine Schwächung des Lebens durch die im
19. Jahrhundert übermächtig und daher problematisch gewordene Historie. Be-
reits am 19. Dezember 1798 betont Goethe in einem Brief an Schiller den Primat
der belebenden Wirkung vor bloßer Belehrung: „Übrigens ist mir alles verhaßt,
was mich bloß belehrt, ohne meine Tätigkeit zu vermehren oder unmittelbar zu
beleben" (Goethe: FA, Abt. II, Bd. 4, 621; vgl. auch Goethes Briefe und Briefe an
Goethe, Bd. 2, 362). Mit diesem markanten Diktum Goethes, der im Kontext die-
ser Feststellung auf seine Lektüre von „Kants Anthropologie" Bezug nimmt (vgl.
ebd.), eröffnet N. das Vorwort zu UB II HL. Vgl. dazu NK 245, 2-4. Zur Prägung
Spenglers durch N.s Historismus-Kritik, Vitalismus und Antirationalismus und
zu Musils Spengler-Satire vgl. Neymeyr 2019/20 und NK 1/2, 344-346.
459, 24-30 Lieber, als dass er irgend welchen eitelen Vertröstungen Gehör
schenkte, erträgt er es, den tief unbefriedigten Blick auf unser modernes Wesen
zu richten: mag er voll von Galle und Hass werden, wenn sein Herz nicht warm
genug zum Mitleid ist! Selbst Bosheit und Hohn ist besser, als dass er sich, nach
der Art unserer „Kunstfreunde", einem trügerischen Behagen und einer stillen
Trunksucht überantwortete!] Wie N. mit der Konzeption dieses Gedankengangs
gerungen hat, zeigen Textvarianten, die in der KGW abgedruckt sind: „[Umge-
kehrt Nachdem das große Problem der Kunst und des Lebens wieder gefunden
ist] Hat man die Noth von Kunst und Leben wieder empfunden, nimmt sich
freilich der übliche Begriff ihrer Vereinigung in der Person des ,Kunstfreundes'
kaum noch anders als eine verächtliche Sache aus -Hat man erst einmal
allen eiteln Vertröstungen den Rücken gekehrt und nur das Eine gefaßt, wie
[groß furchtbar] ernst das allgemeine Problem von Kunst und Leben ist [und
wie es nichts giebt, was nicht auch von diesen], da nimmt sich immerhin frei-
lich der übliche Begriff ihrer Vereinigung in der Person des ,Kunstfreundes'
kaum noch anders als eine verächtliche Sache aus; und auf die Dauer [wird es
für die Möglichkeit authentischen Ausdrucks bildet. In Wagners Schrift Oper
und Drama kommt dem „Ausdruck" besondere Bedeutung zu. Auf der Basis
einer Interpretation der „Musik" im Sinne von Innerlichkeit und genuiner Emp-
findung wird der Begriff der Seele hier mit dem der Musik amalgamiert. Andere
ursprünglich religiöse Begriffe, die später säkularisiert wurden, assoziiert N.
hier ebenfalls mit der Vorstellung der „Seele": etwa „Andacht" (459, 34) und
„heilig" (460, 2).
458, 26-27 die bewegende und gestaltende Seele der Musik] Hier greift N. auf
die Aristotelische Vorstellung zurück, die Seele sei die lebendig formende Kraft
des Leibes (De anima, II 2), und überträgt sie auf die Musik.
459, 13-15 Sehen sie in ihrem innerlichen Schauen keine neuen Gestalten vor sich,
sondern immer nur die alten hinter sich, so dienen sie der Historie, aber nicht dem
Leben] In UB II HL konstatiert N. eine Schwächung des Lebens durch die im
19. Jahrhundert übermächtig und daher problematisch gewordene Historie. Be-
reits am 19. Dezember 1798 betont Goethe in einem Brief an Schiller den Primat
der belebenden Wirkung vor bloßer Belehrung: „Übrigens ist mir alles verhaßt,
was mich bloß belehrt, ohne meine Tätigkeit zu vermehren oder unmittelbar zu
beleben" (Goethe: FA, Abt. II, Bd. 4, 621; vgl. auch Goethes Briefe und Briefe an
Goethe, Bd. 2, 362). Mit diesem markanten Diktum Goethes, der im Kontext die-
ser Feststellung auf seine Lektüre von „Kants Anthropologie" Bezug nimmt (vgl.
ebd.), eröffnet N. das Vorwort zu UB II HL. Vgl. dazu NK 245, 2-4. Zur Prägung
Spenglers durch N.s Historismus-Kritik, Vitalismus und Antirationalismus und
zu Musils Spengler-Satire vgl. Neymeyr 2019/20 und NK 1/2, 344-346.
459, 24-30 Lieber, als dass er irgend welchen eitelen Vertröstungen Gehör
schenkte, erträgt er es, den tief unbefriedigten Blick auf unser modernes Wesen
zu richten: mag er voll von Galle und Hass werden, wenn sein Herz nicht warm
genug zum Mitleid ist! Selbst Bosheit und Hohn ist besser, als dass er sich, nach
der Art unserer „Kunstfreunde", einem trügerischen Behagen und einer stillen
Trunksucht überantwortete!] Wie N. mit der Konzeption dieses Gedankengangs
gerungen hat, zeigen Textvarianten, die in der KGW abgedruckt sind: „[Umge-
kehrt Nachdem das große Problem der Kunst und des Lebens wieder gefunden
ist] Hat man die Noth von Kunst und Leben wieder empfunden, nimmt sich
freilich der übliche Begriff ihrer Vereinigung in der Person des ,Kunstfreundes'
kaum noch anders als eine verächtliche Sache aus -Hat man erst einmal
allen eiteln Vertröstungen den Rücken gekehrt und nur das Eine gefaßt, wie
[groß furchtbar] ernst das allgemeine Problem von Kunst und Leben ist [und
wie es nichts giebt, was nicht auch von diesen], da nimmt sich immerhin frei-
lich der übliche Begriff ihrer Vereinigung in der Person des ,Kunstfreundes'
kaum noch anders als eine verächtliche Sache aus; und auf die Dauer [wird es