Stellenkommentar UB IV WB 7, KSA 1, S. 471-472 489
um individuationis bedingten Vielheit der Einzelwesen. Allerdings fallen
zugleich markante Differenzen auf: Einerseits lässt sich der dionysische
Rausch nicht mit Schopenhauers Konzept willenloser Kontemplation in Ein-
klang bringen, und andererseits ist das Moment des schönen Scheins, das N.
in der Tragödienschrift als Charakteristikum des Apollinischen beschreibt und
später sogar zur Zentralkategorie des Ästhetischen generell erhebt, nicht prob-
lemlos kompatibel mit Schopenhauers Postulat einer objektiven Erkenntnis der
Ideen, das durch die Philosophie Platons inspiriert ist. (Zu dieser systemati-
schen Problematik vgl. Neymeyr 1996a, 215-263 und 1999, 64-84.)
Bereits in der Geburt der Tragödie entfernt sich N. von Schopenhauers pes-
simistischer Ethik der Resignation, wenn er statuiert: „nur als aestheti-
sches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt"
(KSA 1, 47, 26-27). Während Schopenhauer „ein Hinwenden zur Resignation,
zur Verneinung des Willens zum Leben" als „letzte Absicht des Trauer-
spiels" bezeichnet (WWV II, Kap. 37, Hü 500), betrachtet N. den „metaphysi-
sche[n] Trost", das Leben sei trotz allem „unzerstörbar mächtig und lustvoll",
als Wirkung jeder wahren Tragödie (KSA 1, 56, 7-11). Dabei beschreibt er die
Kunst als essentielles Therapeutikum: Als „rettende, heilkundige Zauberin"
vermöge sie „Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins"
in erträgliche Vorstellungen „umzubiegen" (KSA 1, 57, 21-23). In der Götzen-
Dämmerung polemisiert N. dann sogar vehement gegen eine „Pessimisten-
Optik" (KSA 6, 127, 30), die auch die Tragödie dementsprechend funktionalisie-
re. Aufgrund seines dionysischen Vitalismus distanziert er sich hier entschie-
den von Schopenhauers Auffassung, das Trauerspiel solle zur Verneinung des
Willens zum Leben animieren, also „zur Resignation stimmen" (KSA 6, 127, 28)
und als „Quietiv alles Wollens" fungieren (WWV I, § 48, Hü 275). Im Unter-
schied zu Schopenhauer betrachtet N. die Tragödie wie die Kunst generell als
„das grosse Stimulans zum Leben" (KSA 6, 127, 21-22), schreibt ihr also eine
vitalisierende Wirkung zu. In Ecce homo beansprucht N. sogar eine avantgar-
distische Position für sich, indem er sich „selber als den ersten tragischen
Philosophen" versteht (KSA 6, 312, 24-25). Und damit meint N. jetzt - in
radikaler Abgrenzung von Schopenhauer - „den äussersten Gegensatz und An-
tipoden eines pessimistischen Philosophen. Vor mir giebt es diese Umsetzung
des Dionysischen in ein philosophisches Pathos nicht: es fehlt die tragische
Weisheit" (KSA 6, 312, 26-29). - Zu den Analogien und Differenzen zwischen
Schopenhauer und N. im Hinblick auf die Konzeption des Tragischen vgl. Ney-
meyr 2011, 369-391 und 2014b, 290-293.
472, 8-10 der größte Zauberer und Beglücker unter den Sterblichen, der dithy-
rambische Dramatiker] Zur „dithyrambischen Dramatik" vgl. NK 470, 14. Die
erste fragmentarische Fassung der Textpartie lautet: „[...] deutlichen Gestalten,
um individuationis bedingten Vielheit der Einzelwesen. Allerdings fallen
zugleich markante Differenzen auf: Einerseits lässt sich der dionysische
Rausch nicht mit Schopenhauers Konzept willenloser Kontemplation in Ein-
klang bringen, und andererseits ist das Moment des schönen Scheins, das N.
in der Tragödienschrift als Charakteristikum des Apollinischen beschreibt und
später sogar zur Zentralkategorie des Ästhetischen generell erhebt, nicht prob-
lemlos kompatibel mit Schopenhauers Postulat einer objektiven Erkenntnis der
Ideen, das durch die Philosophie Platons inspiriert ist. (Zu dieser systemati-
schen Problematik vgl. Neymeyr 1996a, 215-263 und 1999, 64-84.)
Bereits in der Geburt der Tragödie entfernt sich N. von Schopenhauers pes-
simistischer Ethik der Resignation, wenn er statuiert: „nur als aestheti-
sches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt"
(KSA 1, 47, 26-27). Während Schopenhauer „ein Hinwenden zur Resignation,
zur Verneinung des Willens zum Leben" als „letzte Absicht des Trauer-
spiels" bezeichnet (WWV II, Kap. 37, Hü 500), betrachtet N. den „metaphysi-
sche[n] Trost", das Leben sei trotz allem „unzerstörbar mächtig und lustvoll",
als Wirkung jeder wahren Tragödie (KSA 1, 56, 7-11). Dabei beschreibt er die
Kunst als essentielles Therapeutikum: Als „rettende, heilkundige Zauberin"
vermöge sie „Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins"
in erträgliche Vorstellungen „umzubiegen" (KSA 1, 57, 21-23). In der Götzen-
Dämmerung polemisiert N. dann sogar vehement gegen eine „Pessimisten-
Optik" (KSA 6, 127, 30), die auch die Tragödie dementsprechend funktionalisie-
re. Aufgrund seines dionysischen Vitalismus distanziert er sich hier entschie-
den von Schopenhauers Auffassung, das Trauerspiel solle zur Verneinung des
Willens zum Leben animieren, also „zur Resignation stimmen" (KSA 6, 127, 28)
und als „Quietiv alles Wollens" fungieren (WWV I, § 48, Hü 275). Im Unter-
schied zu Schopenhauer betrachtet N. die Tragödie wie die Kunst generell als
„das grosse Stimulans zum Leben" (KSA 6, 127, 21-22), schreibt ihr also eine
vitalisierende Wirkung zu. In Ecce homo beansprucht N. sogar eine avantgar-
distische Position für sich, indem er sich „selber als den ersten tragischen
Philosophen" versteht (KSA 6, 312, 24-25). Und damit meint N. jetzt - in
radikaler Abgrenzung von Schopenhauer - „den äussersten Gegensatz und An-
tipoden eines pessimistischen Philosophen. Vor mir giebt es diese Umsetzung
des Dionysischen in ein philosophisches Pathos nicht: es fehlt die tragische
Weisheit" (KSA 6, 312, 26-29). - Zu den Analogien und Differenzen zwischen
Schopenhauer und N. im Hinblick auf die Konzeption des Tragischen vgl. Ney-
meyr 2011, 369-391 und 2014b, 290-293.
472, 8-10 der größte Zauberer und Beglücker unter den Sterblichen, der dithy-
rambische Dramatiker] Zur „dithyrambischen Dramatik" vgl. NK 470, 14. Die
erste fragmentarische Fassung der Textpartie lautet: „[...] deutlichen Gestalten,