556 Richard Wagner in Bayreuth
N.s kritisches Urteil über Wagner als Schriftsteller dokumentiert ein schon
Anfang 1874, also mehr als zwei Jahre vor der Publikation von UB IV WB ent-
standenes Nachlass-Fragment: „Als Schriftsteller ist er Rhetor, ohne die Kraft
zu überzeugen" (NL 1874, 32 [41], KSA 7, 766). Später beleuchtet N. in seiner
Schrift Die fröhliche Wissenschaft im Text 99 über „Die Anhänger Scho-
penhauer's" eine Reihe von Affinitäten und Differenzen zwischen Schopen-
hauer und Wagner, um dann mit Nachdruck die Inkonsequenzen von Wagners
Schopenhauerianismus aufzuzeigen. „Schopenhauerisch ist zum Beispiel Wag-
ner's Ereiferung über die Verderbniss der deutschen Sprache"; zugleich betont
N. allerdings, „dass Wagner's Stil selber nicht wenig an all den Geschwüren
und Geschwülsten krankt, deren Anblick Schopenhauern so wüthend machte"
(KSA 3, 455, 30 - 456, 1).
503, 13 in Gegensatz zu aller Cultur der Renaissance] Auch unter dem Einfluss
von Wagners Ansichten bezieht N. in seinen frühen Schriften eine tendenziell
kritische Position gegenüber der „Cultur der Renaissance". Denn er situiert sie
im Bereich der Theoretischen Cultur', gegen die er bereits in der Geburt der
Tragödie polemisiert, weil er sie für unauthentisch hält. Im 19. Kapitel seiner
Geburt der Tragödie exemplifiziert N. diese Sphäre mit frühen Formen der ita-
lienischen Oper (vgl. KSA 1, 124-126). Seiner Auffassung zufolge repräsentiert
der „Bildungsmensch der Renaissance" (KSA 1, 124, 30) die Entfremdung vom
,Dionysischen' als dem Ursprünglichen, weil er bloß das Produkt eines gelehr-
ten Alexandrinertums ist. In einer späteren Textpartie der Geburt der Tragödie
bezeichnet N. die Renaissance als eine „Wiedererweckung des alexandrinisch-
römischen Alterthums im fünfzehnten Jahrhundert" (KSA 1, 148, 28-30). - Mit
solchen Tendenzen zu einem gelehrten Dacapo kontrastiert er in UB IV WB die
Opern Wagners, die er für Manifestationen neuer Ursprünglichkeit hält, weil
sie nicht auf derartiger ,Bildung' beruhen. Deshalb sieht er Wagner „in Gegen-
satz zu aller Cultur der Renaissance". Wenn N. dann sogar „Goethe und Leo-
pardi" als „Nachzügler der italienischen Philologen-Poeten" bezeichnet, rückt
er sie in eine Affinität zum Typus „des nach Leben dürstenden theoretischen
Menschen" (503, 18-22), den er schon in der Geburt der Tragödie mit Skepsis
betrachtet: Hier sieht N. „den Typus des theoretischen Menschen"
(KSA 1, 98, 9-10) durch einseitige Rationalität und den Verlust natürlicher Jn-
stinkte' bestimmt. Vgl. dazu NK 485, 22-28.
Dass N. seine anfänglichen Vorbehalte gegenüber der „Cultur der Renais-
sance" später revidiert, erhellt bereits aus einem späteren Nachlass-Notat, das
sogar eine besondere Hochschätzung für die italienische Renaissance zu erken-
nen gibt: „In der neueren Zeit hat die italienische Renaissance den Menschen
am höchsten gebracht" (NL 1883, 7 [44], KSA 10, 257). An den Humanisten der
Renaissance schätzt N. (auch unter dem Einfluss von Jacob Burckhardts Werk
N.s kritisches Urteil über Wagner als Schriftsteller dokumentiert ein schon
Anfang 1874, also mehr als zwei Jahre vor der Publikation von UB IV WB ent-
standenes Nachlass-Fragment: „Als Schriftsteller ist er Rhetor, ohne die Kraft
zu überzeugen" (NL 1874, 32 [41], KSA 7, 766). Später beleuchtet N. in seiner
Schrift Die fröhliche Wissenschaft im Text 99 über „Die Anhänger Scho-
penhauer's" eine Reihe von Affinitäten und Differenzen zwischen Schopen-
hauer und Wagner, um dann mit Nachdruck die Inkonsequenzen von Wagners
Schopenhauerianismus aufzuzeigen. „Schopenhauerisch ist zum Beispiel Wag-
ner's Ereiferung über die Verderbniss der deutschen Sprache"; zugleich betont
N. allerdings, „dass Wagner's Stil selber nicht wenig an all den Geschwüren
und Geschwülsten krankt, deren Anblick Schopenhauern so wüthend machte"
(KSA 3, 455, 30 - 456, 1).
503, 13 in Gegensatz zu aller Cultur der Renaissance] Auch unter dem Einfluss
von Wagners Ansichten bezieht N. in seinen frühen Schriften eine tendenziell
kritische Position gegenüber der „Cultur der Renaissance". Denn er situiert sie
im Bereich der Theoretischen Cultur', gegen die er bereits in der Geburt der
Tragödie polemisiert, weil er sie für unauthentisch hält. Im 19. Kapitel seiner
Geburt der Tragödie exemplifiziert N. diese Sphäre mit frühen Formen der ita-
lienischen Oper (vgl. KSA 1, 124-126). Seiner Auffassung zufolge repräsentiert
der „Bildungsmensch der Renaissance" (KSA 1, 124, 30) die Entfremdung vom
,Dionysischen' als dem Ursprünglichen, weil er bloß das Produkt eines gelehr-
ten Alexandrinertums ist. In einer späteren Textpartie der Geburt der Tragödie
bezeichnet N. die Renaissance als eine „Wiedererweckung des alexandrinisch-
römischen Alterthums im fünfzehnten Jahrhundert" (KSA 1, 148, 28-30). - Mit
solchen Tendenzen zu einem gelehrten Dacapo kontrastiert er in UB IV WB die
Opern Wagners, die er für Manifestationen neuer Ursprünglichkeit hält, weil
sie nicht auf derartiger ,Bildung' beruhen. Deshalb sieht er Wagner „in Gegen-
satz zu aller Cultur der Renaissance". Wenn N. dann sogar „Goethe und Leo-
pardi" als „Nachzügler der italienischen Philologen-Poeten" bezeichnet, rückt
er sie in eine Affinität zum Typus „des nach Leben dürstenden theoretischen
Menschen" (503, 18-22), den er schon in der Geburt der Tragödie mit Skepsis
betrachtet: Hier sieht N. „den Typus des theoretischen Menschen"
(KSA 1, 98, 9-10) durch einseitige Rationalität und den Verlust natürlicher Jn-
stinkte' bestimmt. Vgl. dazu NK 485, 22-28.
Dass N. seine anfänglichen Vorbehalte gegenüber der „Cultur der Renais-
sance" später revidiert, erhellt bereits aus einem späteren Nachlass-Notat, das
sogar eine besondere Hochschätzung für die italienische Renaissance zu erken-
nen gibt: „In der neueren Zeit hat die italienische Renaissance den Menschen
am höchsten gebracht" (NL 1883, 7 [44], KSA 10, 257). An den Humanisten der
Renaissance schätzt N. (auch unter dem Einfluss von Jacob Burckhardts Werk