578 Richard Wagner in Bayreuth
509, 32 - 510, 6 Wer so fragt und vergebens fragt, der wird sich nach der Zu-
kunft umsehen müssen; [...] so versteht er zuletzt auch, was Wagner diesem
Volke sein wird: [...] nämlich nicht der Seher einer Zukunft, wie er uns viel-
leicht erscheinen möchte, sondern der Deuter und Verklärer einer Vergangenheit.]
Dass dieser kryptische, leicht misszuverstehende Satz erst durch die Verschie-
bung der zeitlichen Perspektive in die Zukunft und durch einen anschließen-
den Rückblick in die Gegenwart seinen nachvollziehbaren Sinn erhält, ergibt
sich aus einer Text-Vorstufe, die diesen Gehalt klar zum Ausdruck bringt:
„wenn wir unseren Blick in die weiteste Ferne schweifen lassen, werden wir
gerade noch sehen was Wagner sein wird, ja was er eigentlich zu sein
bestimmt ist: nicht der Seher einer zukünftigen Ordnung und Befreiung, son-
dern der Deuter der Vergangenheit, vor solchen welche den ganzen Prozeß
dieser Befreiung hinter sich haben und welche, wie Wotan, wie Brünnhilde,
wie Siegfried -Wer darf dies sagen? - Wagner selbst. - Sind es die
Menschen dieses Geschlechts welche hier den Abriß ihrer Lebensgeschichte
wieder erkennen? - Wer in Wagners Leben etwas von dem seinigen wie-
derfindet, in dem er hinauf in dieses große Gewölbe von Monden Sternen und
Kometenbahnen blickt: wer kann es wagen, sein eignes Sternbild darin zu fin-
den? Für uns ist er der Seher und Wegweiser: den Späteren wird er der Deuter
der Vergangenheit sein. Vereinfacher der Geschichte" (KSA 14, 98). Vgl. auch
ein Nachlass-Notat aus der Entstehungszeit von UB IV WB, das eine analoge
zeitliche Perspektive enthält: „Was er sein wird? / Der in eine Vergangenheit
Zurückschauende und sie Deutende - diese Vergangenheit hat er vorwegge-
nommen" (NL 1875-1876, 14 [7], KSA 8, 275). - Richard Wagner selbst erklärt
in seiner programmatischen Schrift Oper und Drama: „diese Zukunft ist
nicht anders denkbar, als aus der Vergangenheit bedingt [...]
In diesem Leben der Zukunft wird dieß Kunstwerk Das sein, was es heute nur
ersehnt, noch nicht aber wirklich sein kann: jenes Leben der Zukunft wird aber
ganz Das, was es sein kann, nur dadurch sein, daß es dieses Kunstwerk in
seinen Schooß aufnimmt" (GSD IV, 228-229).
Später schreibt N. allerdings nicht allein der Musik Wagners speziell eine
derartige Vergangenheitsorientierung zu, sondern bezeichnet in Menschliches,
Allzumenschliches II retrospektive und regressive Tendenzen auch generell als
Charakteristikum der Musik. In diesem Sinne konstatiert er dort im Text 171
„Die Musik als Spätling jeder Cultur": „mitunter läutet die Musik wie
die Sprache eines versunkenen Zeitalters in eine erstaunte und neue Welt hi-
nein und kommt zu spät" (KSA 2, 450, 9-11). Für diese Konstellation gibt N.
eine gattungsästhetische Begründung: „Die Musik ist eben nicht eine allge-
meine, überzeitliche Sprache" (KSA 2, 450, 24-25), wie es vor allem Schopen-
hauer in seiner Musikphilosophie behauptet (vgl. dazu NK 457, 31 - 458, 2 und
509, 32 - 510, 6 Wer so fragt und vergebens fragt, der wird sich nach der Zu-
kunft umsehen müssen; [...] so versteht er zuletzt auch, was Wagner diesem
Volke sein wird: [...] nämlich nicht der Seher einer Zukunft, wie er uns viel-
leicht erscheinen möchte, sondern der Deuter und Verklärer einer Vergangenheit.]
Dass dieser kryptische, leicht misszuverstehende Satz erst durch die Verschie-
bung der zeitlichen Perspektive in die Zukunft und durch einen anschließen-
den Rückblick in die Gegenwart seinen nachvollziehbaren Sinn erhält, ergibt
sich aus einer Text-Vorstufe, die diesen Gehalt klar zum Ausdruck bringt:
„wenn wir unseren Blick in die weiteste Ferne schweifen lassen, werden wir
gerade noch sehen was Wagner sein wird, ja was er eigentlich zu sein
bestimmt ist: nicht der Seher einer zukünftigen Ordnung und Befreiung, son-
dern der Deuter der Vergangenheit, vor solchen welche den ganzen Prozeß
dieser Befreiung hinter sich haben und welche, wie Wotan, wie Brünnhilde,
wie Siegfried -Wer darf dies sagen? - Wagner selbst. - Sind es die
Menschen dieses Geschlechts welche hier den Abriß ihrer Lebensgeschichte
wieder erkennen? - Wer in Wagners Leben etwas von dem seinigen wie-
derfindet, in dem er hinauf in dieses große Gewölbe von Monden Sternen und
Kometenbahnen blickt: wer kann es wagen, sein eignes Sternbild darin zu fin-
den? Für uns ist er der Seher und Wegweiser: den Späteren wird er der Deuter
der Vergangenheit sein. Vereinfacher der Geschichte" (KSA 14, 98). Vgl. auch
ein Nachlass-Notat aus der Entstehungszeit von UB IV WB, das eine analoge
zeitliche Perspektive enthält: „Was er sein wird? / Der in eine Vergangenheit
Zurückschauende und sie Deutende - diese Vergangenheit hat er vorwegge-
nommen" (NL 1875-1876, 14 [7], KSA 8, 275). - Richard Wagner selbst erklärt
in seiner programmatischen Schrift Oper und Drama: „diese Zukunft ist
nicht anders denkbar, als aus der Vergangenheit bedingt [...]
In diesem Leben der Zukunft wird dieß Kunstwerk Das sein, was es heute nur
ersehnt, noch nicht aber wirklich sein kann: jenes Leben der Zukunft wird aber
ganz Das, was es sein kann, nur dadurch sein, daß es dieses Kunstwerk in
seinen Schooß aufnimmt" (GSD IV, 228-229).
Später schreibt N. allerdings nicht allein der Musik Wagners speziell eine
derartige Vergangenheitsorientierung zu, sondern bezeichnet in Menschliches,
Allzumenschliches II retrospektive und regressive Tendenzen auch generell als
Charakteristikum der Musik. In diesem Sinne konstatiert er dort im Text 171
„Die Musik als Spätling jeder Cultur": „mitunter läutet die Musik wie
die Sprache eines versunkenen Zeitalters in eine erstaunte und neue Welt hi-
nein und kommt zu spät" (KSA 2, 450, 9-11). Für diese Konstellation gibt N.
eine gattungsästhetische Begründung: „Die Musik ist eben nicht eine allge-
meine, überzeitliche Sprache" (KSA 2, 450, 24-25), wie es vor allem Schopen-
hauer in seiner Musikphilosophie behauptet (vgl. dazu NK 457, 31 - 458, 2 und