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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0037
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22 Morgenröthe

Traite de la tolerance und Lessing in Nathan der Weise wirkungsvoll vertreten
hatten. N. unternahm es hingegen, gerade die „Moral" in allen ihren Ausprä-
gungen zu hinterfragen und zu bekämpfen - aus „Moralität", wie er noch in
der späteren Vorrede versichert, indem er Moralität als höhere Moral, nämlich
als unbedingten Wahrheitswillen und als schonungslose intellektuelle Redlich-
keit versteht. Mit dieser Radikalisierung und Entgrenzung überschreitet er den
Horizont der Aufklärung. Und das aufklärerische Vernunftpostulat, mit dem
Kant in seiner programmatischen Schrift Was ist Aufidärung? die rationale Au-
tonomie des mündig gewordenen Menschen betont, unterläuft N. durch eine
entschiedene Aufwertung des Unbewussten und der Triebsphäre. Dies hatte er
in der Schule Schopenhauers gelernt, der die Triebsphäre des „Willens" in sei-
nem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung als das existentiell Bestim-
mende verstand und eine ,Philosophie des Leibes' entwarf.
Wesentliche Anregungen erfuhr N. durch das Studium des von Eduard von
Hartmann verfassten Erfolgsbuchs Philosophie des Unbewußten - trotz seiner
Polemik in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung (UB II HL 9), einer Polemik,
mit der er, wie auch sonst immer wieder, zu kaschieren versuchte, was er ei-
nem andern verdankte. Die neue Bedeutung des Unbewussten, die von der
romantischen Psychologie über Schopenhauer bis hin zu Freud führt, schlägt
in vielen Texten der Morgenröthe durch. Obwohl schon die pietistische Intro-
spektion, die Aufklärung mit ihrer „Erfahrungsseelenkunde" (Karl Philipp Mo-
ritz) und noch früher die Moralistik psychologische Analysen beförderten, ge-
wann diese Tendenz durch die von N. adaptierte Lehre vom Unbewussten und
durch die Aufwertung der Triebsphäre eine neue Qualität. Auf weiten Strecken
ist die Morgenröthe ein psychologisches Experimentierfeld. Später bescheinigte
sich N. selbst einen exzeptionellen Rang gerade als Psychologe. In Ecce homo,
wo der Größenwahn nicht nur in der Erhebung der eigenen Bedeutung über
Goethe, Shakespeare und Dante (KSA 6, 343, 4-10) und nicht nur in der genea-
logischen Herleitung des Ego von Alexander dem Großen und Cäsar (KSA 6,
269, 3-5), sondern auch in ungezählten ichbezogenen Elativen und Superlati-
ven durchbricht, heißt es: „Dass aus meinen Schriften ein Psychologe re-
det, der nicht seines Gleichen hat, das ist vielleicht die erste Einsicht, zu der
ein guter Leser gelangt" (KSA 6, 305, 7-9).
Wie für seine anderen Aphorismen-Sammlungen ordnete N. aus der Fülle
seiner Notate diejenigen locker zusammen, die sich zur Konstituierung einzel-
ner thematisch übergreifender Komplexe mehr oder weniger eigneten. So ent-
standen, bezeichnenderweise ohne auf innere Einheit zielende Überschriften,
die fünf ,Bücher' der Morgenröthe. Mit allen fünf Büchern bewegte sich N. in
einer Zeitströmung. Moral und Ethik samt der Moralkritik waren gerade in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Gegenstand einer Hochflut von Publikatio-
 
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