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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0039
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24 Morgenröthe

Freigeists orientierte Umwertung erkennen - ein Ansatz, der sich erst später,
in Menschliches, Allzumenschliches, in der Morgenröthe und in der Fröhlichen
Wissenschaft konzeptionell entfaltet. In der Schrift Die Philosophie im tragi-
schen Zeitalter der Griechen heißt es: „in der abgeschlossnen Gemeinde der
athenischen Anaxagoreer war die Mythologie des Volkes nur noch als eine
symbolische Sprache erlaubt; alle Mythen, alle Götter, alle Heroen galten hier
nur als Hieroglyphen der Naturdeutung, und selbst das homerische Epos sollte
der Kanonische Gesang vom Walten des Nous [sc. des die Welt regierenden
,Geists'] und von den Kämpfen und Gesetzen der Physis sein. Hier und da
drang ein Ton aus dieser Gesellschaft erhabener Freigeister [!] in das Volk; und
besonders der große und jederzeit verwegene, auf Neues sinnende Euripides
wagte mancherlei durch die tragische Maske laut werden zu lassen." (KSA 1,
869, 25-870, 1)
Der Stil der Morgenröthe
Es sind Aphorismen!
Sind es Aphorismen?
(NL 1880, 7[192], KSA 9, 356)
Eine Charakterisierung des Stils hat wie bei N.s anderen ,aphoristischen'
Schriften zuallererst von der Form des Aphorismus auszugehen. Inwiefern han-
delt es sich um Aphorismen, also um knappe, scharf konturierte und pointierte
Gedankenkonzentrate, die sich am - nicht nur für den Aphorismus geltenden -
Stilideal der brevitas orientieren? Schon ein kurzer Überblick zeigt, dass es
solche Aphorismen gibt, besonders im vierten Buch, aber dass die Hauptmasse
der in der Morgenröthe versammelten Texte nicht einem strengen Formideal
folgt, sondern einen impulsiven und experimentell offenen Stil hat. Nicht sel-
ten erstrecken sich Texte über mehrere Seiten. Schon deshalb sind sie nicht
aphoristisch. Manche knüpfen glossenartig an Lektüre-Eindrücke an, um sie
weiter auszuspinnen oder um sie zu kommentieren. Ein betont subjektives,
erlebnishaft gefärbtes Monologisieren, das ins Selbstgespräch übergeht, begeg-
net ebenso wie der dialogisch mit Rede und Gegenrede inszenierte Wechsel
von Positionen, mit denen das Ich seine eigene innere Mehrstimmigkeit kund-
tut. Überlegungen zu zentralen Themen wie ,Moral', ,Vorurteil', ,freier Geist',
,Christentum', ,Wahrheit' und ,Erkenntnis' wachsen sich immer wieder zu klei-
nen Abhandlungen aus, die an Kleists Vorstellung vom „Verfertigen der Gedan-
ken beim Reden" erinnern und eher nicht ins aphoristische Genre gehören.
Eine aufschlussreiche Selbstdiagnose im Hinblick auf seinen Stil wie über-
haupt auf sein darstellerisches Verfahren gibt N. in M 223 unter der Überschrift
 
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