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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0045
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30 Morgenröthe

verfestigt hat (vgl. Μ 9). Das Zarathustra-Kapitel „Von der Selbst-Ueberwin-
dung" zieht Folgerungen für die Rolle des Philosophen, wie sie sich N. für sich
selbst vorstellt: „Das ist euer ganzer Wille, ihr Weisesten, als ein Wille zur
Macht; auch wenn ihr vom Guten und Bösen redet und von den Werthschät-
zungen" (KSA 4, 146, 11-13).
Grundsätzlich allerdings bleibt es bei der in der Morgenröthe formulierten
Suspendierung „moralischer Vorurtheile": Sie werden im Zarathustra zu einem
„alten Wahn" erklärt. Der 9. Abschnitt des zentralen Kapitels „Von alten und
neuen Tafeln" beginnt mit den Worten: „Es giebt einen alten Wahn, der heisst
Gut und Böse" (KSA 4, 253, 2). Schon in der Morgenröthe wandte sich N. gegen
die zu „Vorschriften" ausgeformte präskriptive Moral, wie sie - das schreibt er
noch nicht explizit - der Dekalog prototypisch bietet. Nun, im Zarathustra,
greift er zentrale Gebote des mosaischen Gesetzes und dann der christlichen
Moral direkt an: ,„Du sollst nicht rauben! Du sollst nicht todtschlagen!' - sol-
che Worte hiess man einst heilig; vor ihnen beugte man Knie und Köpfe und
zog die Schuhe aus" (KSA 4, 253, 15-17). Diese „alten Tafeln", die Moses vom
Berge Sinai brachte, will N. nun durch „neue Tafeln" ersetzen, denen seine
„Umwertung aller Werte" zugrundeliegt. Eine rhetorische Frage suggeriert die
Legitimation durch das „Leben" selbst: durch die Natur und die ,Wirklichkeit'.
Sie lautet: „Ist in allem Leben selber nicht - Rauben und Todtschlagen?" (253,
20) Deutlicher nicht und nicht bedenklicher könnte der naturalistische Fehl-
schluss sich selbst ad absurdum führen. Damit vollzieht N. die Wende zum
Gewaltprediger. Zu den unmittelbaren Konsequenzen schon im Zarathustra
und dann noch mehr in den auf ihn folgenden Schriften gehört die Verherrli-
chung des Krieges und eine Vorliebe für das „Befehlen", die „Befehlshaber"
und „Führer", ja für den „cäsarischen [...] Gewaltmenschen" (JGB, KSA 5, 136,
21). Was auf den „neuen Tafeln" stehen soll, verschwimmt im Vagen. Markant
bleibt nur die refrainartig wiederholte Aufforderung, die alte ,Moral' zu destru-
ieren: „Oh meine Brüder, zerbrecht, zerbrecht mir die alten Tafeln!" (KSA 4,
253, 24 f.)
Bündig erfasst N. im Rückblick auf die Morgenröthe die zentrale Kontinui-
tät: „Mit diesem Buche beginnt mein Feldzug gegen die Moral" (EH, KSA 6,
329). Die subversive genealogische Methode, die er schon im Titel der Genealo-
gie der Moral ankündigt, bildet sich erstmals in der Morgenröthe deutlich he-
raus, ebenso die immoralistische Grundtendenz. Auch die radikal antichristli-
che Attacke, die er im Antichrist führt, gehört - in moderaterer Form - zum
Kernbereich der Morgenröthe, denn die darin formulierte Moralkritik gilt vor
allem der christlichen Moral, und zwar sowohl ihren metaphysischen Voraus-
setzungen wie ihren psychischen und mentalen Folgen.
Schließlich entwickelt N. bereits den Ansatz zu seinem in den späteren
Werken lancierten Konzept des „Willens zur Macht", das auch viele nachgelas-
 
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