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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0048
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Überblickskommentar 33

zahl von Texten. Rückblickend konstatiert er in Ecce homo, dass er „Pascal
nicht lese, sondern liebe, als das lehrreichste Opfer des Christenthums, lang-
sam hingemordet, erst leiblich, dann psychologisch" (KSA 6, 285, 11-13). Und
er verallgemeinert die an diesem Paradigma vorgeführte Problematik noch, in-
dem er ausruft: „Oh, wie viel überflüssige Grausamkeit und Thierquälerei ist
von jenen Religionen ausgegangen, welche die Sünde erfunden haben!" (53,
57, 5-7) In Jenseits von Gut und Böse (JGB 46 und JGB 229) stellt er fest, dass
Pascals Versuch, die Vernunft - durch eine Selbstüberwindung eben der Ver-
nunft - zugunsten des christlichen Glaubens zu überwinden, „auf eine
schreckliche Weise einem dauernden Selbstmorde der Vernunft ähnlich sieht".
Immer wieder fließt in die Kurz-Abhandlungen, zu denen sich N.s Texte
nicht selten auswachsen, die Erfahrung eigener Krankheitsqualen ein, die, wie
aus vielen Briefen hervorgeht, sein Leben schon in den Jahren vor der Entste-
hung der Morgenröthe zerrütteten. Auch davon dürfte seine besondere Sympa-
thie für Pascal herrühren, denn Pascal litt vor seinem frühen Ende ebenfalls
unter schmerzhaften Krankheiten. Aus diesem mit Pascal geteilten Leiden
rührt nicht zuletzt N.s intensives Interesse für Pathologisches generell. Daher
sein Bestreben, speziell die christliche Moral zu pathologisieren. Hier, in den
Krankheits- und Leidens-Erfahrungen, die N. in der späteren Vorrede zur Mor-
genröthe als ein die Grundfesten seines Lebens unterminierendes Schicksal
darstellt, wurzelt auch seine trotz aller Distanzierungen von Schopenhauer
fortdauernde Zustimmung zu dessen Grundansicht, Leben bedeute wesentlich
Leiden. „Man sagt Schopenhauern nach, und mit Recht, dass er die Leiden der
Menschheit endlich einmal wieder ernst genommen habe" (56, 19-21), heißt es
in M 52 unter der Leitfrage „Wo sind die neuen Ärzte der Seele?" (56,
2) N. stellt diese Frage, um am Ende erneut zu fragen: „wo ist Der, welcher
endlich auch einmal die Gegenmittel gegen diese Leiden ernst nimmt und die
unerhörte Quacksalberei an den Pranger stellt, mit der, unter den herrlichsten
Namen [den Namen Gottes], bis jetzt die Menschheit ihre Seelenkrankheiten
zu behandeln gewöhnt ist?" (56, 21-26) Die unerhörte Quacksalberei liegt für
N. in den Heilsversprechungen und Tröstungen der Religion. Die „neuen Ärzte
der Seele" sollen die alten Quacksalber, die Priester, ablösen. Das könnte man
als Vorwegnahme moderner psychotherapeutischer Praxis verstehen, doch er-
gibt sich aus N.s Gesamtkonzept, dass er vor allem dem Philosophen diese Auf-
gabe und Fähigkeit zutraut. Es ist letztlich die von ihm selbst verordnete philo-
sophische Kur, die er im Sinn hat: nach der Absage an die lebensfeindliche,
nicht heilende, sondern noch kränker machende „Quacksalberei" der christli-
chen Religion neue, lebensbejahende Heilsmöglichkeiten anzubieten.
Allerdings wird aus allen weiteren Aussagen, auch aus N.s späteren Schrif-
ten deutlich, dass er sich als ,philosophischer Arzt' eher auf das Schneiden
 
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