Metadaten

Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0049
Lizenz: In Copyright
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
34 Morgenröthe

und Brennen versteht, indem er das Christentum und seine Moral radikal atta-
ckiert. Die Vorstellung von „Ärzten der Seele" selbst ist durchaus kein moder-
nes Konzept, nicht einmal im philosophischen Sinn, denn schon Galen, der
berühmteste, bis weit in die Neuzeit hinein wirkmächtige Arzt der Antike, der
eine Schrift mit dem Titel De propriorum animi cuiuslibet dignotione et curatione
verfasste (Corpus Medicorum Graecorum V, 4, 1, 1), beruft sich auf einen maßge-
benden stoischen Philosophen: auf Chrysipp. Dieser hatte im Kontext der stoi-
schen Affektenlehre - einer Lehre, derzufolge die Affekte Krankheiten der See-
le sind, die es durch psychisches Training bis hin zur Erringung der stoischen
Gemütsruhe (tranquillitas animi) zu therapieren gelte - eine Analogie zwi-
schen den Leiden des Körpers und denen der Seele statuiert. Dementsprechend
spricht er von einem „Arzt der Seele" (ιατρός τής ψυχής; SVF, Vol. III, Nr. 471).
Überhaupt las N. die antiken Philosophen gern unter therapeutischen Aspek-
ten. „Ich brauche die Salbbüchsen und Medicinflaschen aller antiken Philo-
sophen", notierte er (NL 1878, KSA 8, 28[41], 509).
Obwohl die Auseinandersetzung mit der christlichen Moral im ersten Buch
dominiert, überschreitet N. diesen Horizont zugleich hin auf eine allgemeine
und grundsätzliche Fragwürdigkeit von Moral, wie Ree. Er reflektiert die bisher
bloß gewohnheitsmäßige oder vorurteilshaft-unbewusst begründete gesell-
schaftliche Verankerung von Moral. In einer ganzen Reihe von Texten verwen-
det er dafür den Begriff der „Sittlichkeit der Sitte". „Sitte", so schreibt er, sei
nichts anderes als die gesellschaftlich etablierte Gewohnheit im Verhalten und
Bewerten. Das hatte schon Pascal in seinen Pensees festgestellt, noch vor ihm
Montaigne und vor diesem bereits Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik.
Im 18. Jahrhundert gehörte das aus der Gewohnheit resultierende Vorurteil
zum Diskurs in der Selbstverständigung aufgeklärter Geister. In einem Brief
an d'Alembert vom 25. November 1769 schrieb Friedrich der Große: „Comment
vaincre tant de prejuges suces avec le lait de la nourrice? Comment lütter con-
tre la coutume, qui est la raison des sots" („Wie soll man so viele Vorurteile
besiegen, die schon mit der Muttermilch eingesogen sind? Wie soll man gegen
die Gewohnheit kämpfen, welche die Vernunft der Dummköpfe ist [...]?"; Fried-
rich der Große 1854, 514).
Von der gewohnheitsmäßigen „Sitte" wird aus dem Bedürfnis nach Kon-
sens und zur Stabilisierung des Gemeinwesens die „Sittlichkeit", d. h. die Mo-
ral abgeleitet. Da eine solche „Moral" wesentlich durch Tradition, durch „Her-
kommen" Geltung erlangt hat, also durch eine nicht mehr in Frage gestellte
Autorität, handelt es sich um ein ebenso kollektives wie unbewusstes Vorurteil:
um ein Phänomen, das die aufklärerische Vorurteilskritik als „praeiudicium
auctoritatis" an oberster Stelle aller Vorurteilsarten rangieren ließ. In einem
zum Kurzessay ausgeweiteten Text, in dem N. den „Begriff der Sittlich-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften