46 Morgenröthe
dem Wort „Nichts" gipfeln und enden. Der Asket verkörpert für ihn mit seinem
Willen zur äußersten Selbstreduktion, ja Selbstauslöschung das Maximum in
der Verwirklichung der Einsicht in dieses „Nichts". N. interpretiert die Figur
des Asketen anders, indem er sie im Sinne seines Macht-Theorems psychologi-
siert: Der Asket findet „Genuss", ja „Glück" in seinem Tun, das er als gelingen-
de Ausübung von „Macht" gegen sich selbst erfährt: sie führt zum „Triumph
des Asketen über sich selber" (103, 13) und damit zur Vollendung des Strebens
nach Auszeichnung. So verwandelt N. Schopenhauers auf philosophische Ein-
sicht sich berufende Selbstreduktion in eine psychologisch als Selbstexpansion
und Selbststeigerung gedeutete subjektive Erfahrung.
Obwohl N. das Individuum über alles stellt, um vom individualistischen
Standpunkt aus die vermeintlich allgemeinverbindlichen Moral-Vorstellungen
als bloße Vorurteile zu interpretieren, und obwohl er im Zuge seiner psycholo-
gisierenden Ausführungen gerade die subjektiven Empfindungen zur Geltung
bringt, hinterfragt er in eklatantem Widerspruch zu dem von ihm selbst propa-
gierten Individualismus alsbald in mehreren Texten die Vorstellung von einem
konsistenten und sowohl in seinen Wahrnehmungen sicheren wie für seine
Handlungen verantwortlichen Subjekt. Unter dem Titel „Das sogenannte
,Ich'" problematisiert er in M 115 das „Ich" als Produkt von Vorurteilen, die
schon aus der Struktur der Sprache resultieren - wie laut Francis Bacon die
„Idola Fori": „ex foedere verborum et nominorum" (Novum Organum I 170). Bei
N. sind diese Vorurteile nicht diejenigen anderer über uns, sondern undurch-
schaute Vorurteile, die wir über uns selbst hegen und die als bloße „Meinun-
gen", d. h. als Bild, das wir uns vom eigenen Ich machen, dieses Ich allererst
modellieren: „Unsere Meinung über uns aber, die wir auf diesem fal-
schen Wege gefunden haben, das sogenannte ,Ich', arbeitet fürderhin mit an
unserem Charakter und Schicksal" (108, 5-8).
Dieser Text bereitet den folgenden (Μ 116) vor, der die Subversion des Sub-
jekts im Hinblick auf dessen vorgebliche sittliche Freiheit und moralische Kom-
petenz weiterführt. N. zielt mit einem Zitat auf Schopenhauer, um dessen Glau-
ben an ein souveränes Wissen über Gut und Böse und die entsprechende mo-
ralische Urteils- und Handlungsfähigkeit durch die Unterminierung des
„Subjekts" grundsätzlich in Frage zu stellen. Von der weitreichenden Auflö-
sung des Ichs, die sich auch in der zeitgenössischen Psychologie, besonders in
Ernst Machs Werk Beiträge zur Analyse der Empfindungen beobachten lässt
(eine andere Schrift sandte Mach mit persönlicher Widmung an N.), ist es nur
noch ein kleiner Schritt zu der Auffassung, die moralischen Anschauungen
und Urteile seien nicht nur vorurteilshaft bedingt, sondern sogar beliebig fluk-
tuierende moralische „Moden". In M 131 heißt es entsprechend: „Wie sich die
moralischen Gesammt-Urtheile verschoben haben! Diese grössten Wunder der
dem Wort „Nichts" gipfeln und enden. Der Asket verkörpert für ihn mit seinem
Willen zur äußersten Selbstreduktion, ja Selbstauslöschung das Maximum in
der Verwirklichung der Einsicht in dieses „Nichts". N. interpretiert die Figur
des Asketen anders, indem er sie im Sinne seines Macht-Theorems psychologi-
siert: Der Asket findet „Genuss", ja „Glück" in seinem Tun, das er als gelingen-
de Ausübung von „Macht" gegen sich selbst erfährt: sie führt zum „Triumph
des Asketen über sich selber" (103, 13) und damit zur Vollendung des Strebens
nach Auszeichnung. So verwandelt N. Schopenhauers auf philosophische Ein-
sicht sich berufende Selbstreduktion in eine psychologisch als Selbstexpansion
und Selbststeigerung gedeutete subjektive Erfahrung.
Obwohl N. das Individuum über alles stellt, um vom individualistischen
Standpunkt aus die vermeintlich allgemeinverbindlichen Moral-Vorstellungen
als bloße Vorurteile zu interpretieren, und obwohl er im Zuge seiner psycholo-
gisierenden Ausführungen gerade die subjektiven Empfindungen zur Geltung
bringt, hinterfragt er in eklatantem Widerspruch zu dem von ihm selbst propa-
gierten Individualismus alsbald in mehreren Texten die Vorstellung von einem
konsistenten und sowohl in seinen Wahrnehmungen sicheren wie für seine
Handlungen verantwortlichen Subjekt. Unter dem Titel „Das sogenannte
,Ich'" problematisiert er in M 115 das „Ich" als Produkt von Vorurteilen, die
schon aus der Struktur der Sprache resultieren - wie laut Francis Bacon die
„Idola Fori": „ex foedere verborum et nominorum" (Novum Organum I 170). Bei
N. sind diese Vorurteile nicht diejenigen anderer über uns, sondern undurch-
schaute Vorurteile, die wir über uns selbst hegen und die als bloße „Meinun-
gen", d. h. als Bild, das wir uns vom eigenen Ich machen, dieses Ich allererst
modellieren: „Unsere Meinung über uns aber, die wir auf diesem fal-
schen Wege gefunden haben, das sogenannte ,Ich', arbeitet fürderhin mit an
unserem Charakter und Schicksal" (108, 5-8).
Dieser Text bereitet den folgenden (Μ 116) vor, der die Subversion des Sub-
jekts im Hinblick auf dessen vorgebliche sittliche Freiheit und moralische Kom-
petenz weiterführt. N. zielt mit einem Zitat auf Schopenhauer, um dessen Glau-
ben an ein souveränes Wissen über Gut und Böse und die entsprechende mo-
ralische Urteils- und Handlungsfähigkeit durch die Unterminierung des
„Subjekts" grundsätzlich in Frage zu stellen. Von der weitreichenden Auflö-
sung des Ichs, die sich auch in der zeitgenössischen Psychologie, besonders in
Ernst Machs Werk Beiträge zur Analyse der Empfindungen beobachten lässt
(eine andere Schrift sandte Mach mit persönlicher Widmung an N.), ist es nur
noch ein kleiner Schritt zu der Auffassung, die moralischen Anschauungen
und Urteile seien nicht nur vorurteilshaft bedingt, sondern sogar beliebig fluk-
tuierende moralische „Moden". In M 131 heißt es entsprechend: „Wie sich die
moralischen Gesammt-Urtheile verschoben haben! Diese grössten Wunder der