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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0071
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56 Morgenröthe

führt. N. studierte und exzerpierte ihn gerade in der Zeit, in der die Morgenrö-
the entstand (vgl. NL 1880, 7[112], KSA 9, 341, 18-20; 7[145], 347, 5-7; 7[148],
347, 18-20; 7[149], 147, 22 f.). Programmatisch auf Schopenhauers „Genius der
Gattung" zurückgreifend setzt N. in der auf die Morgenröthe folgenden Schrift
Die fröhliche Wissenschaft „Physiologie und Thiergeschichte" an den „Anfang
des Begreifens" (KSA 3, 590, 14 f.).
Den Impetus der aufklärerischen Desillusionierung und Depotenzierung
nach dem emphatischen Genie- und Heroenkult, der noch für N.s frühe Schrif-
ten charakteristisch war, signalisiert schon der Titel seiner ersten Aphorismen-
Sammlung: Menschliches, Allzumenschliches. In einem der längeren Texte (Μ
298) der Morgenröthe führt N. diese Absage an seine einstige romantische Ge-
nie- und Heroen-Idolatrie fort, indem er sie am bekanntesten Idol, an der Figur
Napoleons, historisch reflektiert. „Vielleicht ist gerade er es", schreibt N., „der
die romantische dem Geiste der Aufklärung fremde Prostration vor dem ,Genie'
und dem ,Heros' unserem Jahrhundert in die Seele gegeben hat, er, vor dem
ein Byron sich nicht zu sagen schämte, er sei ein ,Wurm gegen solch ein We-
sen'. (Die Formeln einer solchen Prostration sind von jenem alten anmaassli-
chen Wirr- und Murrkopfe, Thomas Carlyle, gefunden worden, der ein langes
Leben darauf verwendet hat, die Vernunft seiner Engländer romantisch zu ma-
chen: umsonst!)" (222, 10-19)
Mit seiner aufklärerischen Kritik betreibt N. nicht nur eine kritische Selbst-
aufklärung im Rückblick auf frühere Stadien seiner geistigen Biographie; auch
ein Hauptthema des fünften Buches und der nächsten großen Aphorismen-
Sammlung, der Fröhlichen Wissenschaft, kündigt sich hier schon an. Es ist das
Thema der „Erkenntniss" und der Leidenschaft der Erkenntnis. Von vornherein
untergräbt N. auch auf diesem Terrain sich selbst, so dass ein Zwielicht auf
alle folgenden Bekenntnisse zu der Aufgabe vorurteilsloser „Erkenntniss" fällt,
die er sich als aufklärerische Selbstpurgierung und als „Kaltwasserkur" verord-
net. Unter dem Leitwort „Eine Fabel" erfindet er eine Figur, die er sich
selbst stolz als Trouvaille zurechnet: „Der Don Juan der Erkenntniss: er ist noch
von keinem Philosophen und Dichter entdeckt worden. Ihm fehlt die Liebe zu
den Dingen, welche er erkennt, aber er hat Geist, Kitzel und Genuss an Jagd
und Intriguen der Erkenntniss - bis an die höchsten und fernsten Sterne der
Erkenntniss hinauf! - bis ihm zuletzt Nichts mehr zu erjagen übrig bleibt, als
das absolut Wehethuende der Erkenntniss, gleich dem Trinker, der am
Ende Absinth und Scheidewasser trinkt" (232, 16-24).
Fünftes Buch
Auch hier beherrscht nicht mehr das im Untertitel angekündigte Generalthema
der „Gedanken über die moralischen Vorurtheile" N.s Reflexionen, wie noch
 
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